E.M. Remarque
mehr.
»Da sind so viele Jahre«, sagte sie. »Da wird der Alltag sein ...«
Bucher sah, daß blaue Wolkenschatten über den Hügel zogen, auf dem das weiße
Haus stand. Einen Augenblick wunderte er sich, daß es noch da war. Ihm schien,
als hätte es von einer lautlosen Bombe getroffen sein müssen. Aber es war noch
da.
»Wollen wir nicht warten, bis wir draußen sind und es versucht haben, bevor wir
verzweifeln?« fragte er.
Sie blickte auf ihre dünnen Hände und dachte an ihre grauen Haare und ihre
fehlenden Zähne, und dann dachte sie daran, daß Bucher seit Jahren kaum eine
Frau außerhalb des Lagers gesehen hatte. Sie war jünger als er, aber sie fühlte
sich um viele Jahre älter; Wissen lag auf ihr wie Blei. Sie glaubte nichts von
dem, was er so sicher erwartete – und trotzdem war auch in ihr noch eine letzte
Hoffnung, an die sie sich klammerte. »Du hast recht, Josef«, sagte sie. »Wir wollen
so lange warten.«
Sie ging zu ihrer Baracke zurück. Ihr schmutziger Rock schlug um die dünnen
Beine.
Er sah ihr nach und spürte plötzlich Wut wie eine kochende Fontäne in sich
aufsteigen.
Er wußte, daß er hilflos war und nichts tun konnte, und auch, daß er darüber
hinwegkommen und selbst einsehen und verstehen mußte, was er Ruth gesagt hatte.
Langsam stand er auf und ging zur Baracke. Er konnte auf einmal den hellen
Himmel nicht mehr ertragen.
XXI
N eubauer starrte auf den
Brief. Dann las er den letzten Absatz noch einmal. »Deshalb gehe ich. Wenn Du
Dich fangen lassen willst, so ist das Deine Sache. Ich will frei sein. Freya
nehme ich mit. Komm nach – Selma.« Als Adresse war ein Dorf in Bayern
angegeben.
Neubauer sah sich um. Er verstand es nicht. Es konnte nicht wahr sein. Sie
mußten jeden Augenblick wiederkommen. Ihn jetzt zu verlassen – das war
unmöglich!
Er setzte sich schwerfällig in einen der französischen Sessel.
Das Ding krachte. Er stand auf, gab dem Sessel einen Tritt und ließ sich auf
das Sofa fallen. Dieser verdammte Tand! Wozu hatte er das Zeug nur, anstatt
überall ehrliche deutsche Möbel zu haben wie andere Leute? Ihretwegen hatte er
es besorgt. Sie hatte was darüber gelesen und gedacht, es sei wertvoll und
elegant. Was ging es ihn an? Ihn, den rauhen, ehrlichen Gefolgsmann des
Führers? Er holte zu einem zweiten Tritt nach dem zierlichen Sessel aus, besann
sich aber. Wozu? Man konnte den Kram vielleicht einmal verkaufen.
Aber wer kaufte schon Kunst, wenn die Kanonen zu hören waren?
Er stand wieder auf und ging durch die Wohnung. Im Schlafzimmer machte er die
Schranktüren auf. Er hatte noch Hoffnung, bevor er sie öffnete, aber als er in
die Fächer sah, fiel sie zusammen. Selma hatte die Pelzsachen und alles
Wertvolle mitgenommen.
Er riß die Wäsche beiseite; der Kasten mit dem Schmuck fehlte. Langsam schloß
er die Türen und stand eine Zeitlang neben dem Toilettentisch. Gedankenlos hob
er die Kristallflakons aus böhmischem Glas auf, entstöpselte sie und roch
daran, ohne etwas zu riechen. Es waren Geschenke aus den glorreichen Tagen in
der Tschechoslowakei – sie hatte sie nicht mitgenommen.
Zu zerbrechlich, wahrscheinlich.
Er machte plötzlich ein paar rasche Schritte zu einem Wandschrank, riß ihn auf
und suchte nach einem Schlüssel. Er brauchte nicht zu suchen. Das Geheimfach
war offen und leer.
Sie hatte alle Wertpapiere mitgenommen. Sogar seine goldene Zigarettendose mit
dem Hakenkreuz in Brillanten – das Geschenk der Industrie, als er noch im
technischen Dienst war.
Er hätte dableiben und die Brüder weiter melken sollen. Die Idee mit dem Lager
hatte sich jetzt am Ende doch als Fehler herausgestellt. Gewiß, in den ersten
Jahren hatte man es als gutes Druckmittel benutzen können; aber nun hatte man
es dafür am Halse. Immerhin, er war einer
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