E.M. Remarque
der menschlichsten Kommandanten.
Das war bekannt. Mellern war kein Dachau, kein Oranienburg, kein Buchenwald –
von den Vernichtungslagern gar nicht zu reden.
Er horchte auf. Eines der Fenster stand offen, und ein Mußelinvorhang wehte wie
ein Geist im Wind. Dieses verdammte Rollen vom Horizont her! Es machte einen
nervös.
Er schloß das Fenster. In der Eile klemmte er die Gardine ein. Er öffnete das
Fenster wieder und zerrte die Gardine herein. Sie blieb an einer Ecke hängen
und zerriß. Er fluchte und knallte das Fenster zu. Dann ging er in die Küche.
Das Mädchen saß am Tisch und sprang auf, als er hereinkam. Er knurrte und sah
sie nicht an. Sie wußte natürlich alles, das Luder. Er holte sich selbst eine
Flasche Bier aus dem Eisschrank.
Er fand auch noch eine halbe Flasche Steinhäger und nahm beide mit ins
Wohnzimmer. Dann ging er zurück; er hatte die Gläser vergessen. Das Mädchen
stand am Fenster und horchte.
Sie wandte sich um, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt.
»Soll ich etwas zu essen machen?«
»Nein.«
Er stapfte wieder hinaus. Der Wacholderschnaps war scharf und würzig; das Bier
kalt. Ausreißen, dachte er. Wie Juden.
Schlimmer! Juden taten das nicht. Die blieben zusammen. Er hatte das oft
gesehen. Angeschmiert! Im Stich gelassen! Das hatte man davon! Er hätte mehr
vom Leben haben können, wenn er nicht ein treuer Familienvater gewesen wäre.
Treu – nun, so gut wie treu, konnte man sagen. Treu eigentlich, wenn man
überlegte, was er alles hätte haben können. Die paar Male! Die Witwe – die galt
fast nicht. Da war eine Rothaarige gewesen, vor einigen Jahren, die gekommen
war, um ihren Mann aus dem Lager zu retten – was die alles gemacht hatte in
ihrer Angst!
Dabei war der Mann längst tot gewesen. Sie wußte es natürlich nicht. War ein
munterer Abend geworden. Später allerdings, als sie die Zigarrenkiste mit der
Asche gekriegt hatte, hatte sie sich idiotisch benommen. Ihre eigene Schuld,
daß sie eingesperrt wurde. Ein Obersturmbannführer konnte sich nicht anspucken
lassen.
Er goß einen zweiten großen Steinhäger ein. Wozu dachte er gerade an das? Ach
so, wegen Selma. Was er alles hätte haben können. Ja, er hatte manche
Gelegenheit verpaßt. Was andere alles getrieben hatten! Allein der Klumpfuß
Binding von der Gestapo! Jeden Tag eine neue.
Er schob die Flasche weg. Das Haus schien so leer, als habe Selma alle Möbel
ausgeräumt. Freya hatte sie auch mitgeschleppt. Warum hatte er keinen Sohn?
Nicht seine Schuld, sicher nicht! Ach, verdammt! Er sah sich um. Was sollte er
hier noch? Versuchen, sie zu finden? In dem Kafferndorf? Sie war unterwegs.
Konnte lange dauern, bis sie dort ankam.
Er starrte auf seine blanken Stiefel. Die blanke Ehre – beschmiert jetzt durch
Verrat.
Schwerfällig stand er auf und ging durch das leere Haus hinaus.
Draußen stand der Mercedes. »Zum Lager, Alfred.«
Der Wagen kroch langsam durch die Stadt. »Halt!« sagte Neubauer plötzlich. »Zur
Bank, Alfred.«
Er kam heraus, so stramm er konnte. Niemand sollte es ihm ansehen! So etwas!
Ihn auch noch zu blamieren! Die Hälfte des Geldes hatte sie in der letzten Zeit
abgehoben.
Als er gefragt hatte, warum man ihn nicht informiert habe, hatte man die
Achseln gezuckt und von gemeinsamem Konto geredet. Man habe sogar geglaubt, ihm
gefällig gewesen zu sein.
Höhere Abhebungen seien offiziell nicht gern gesehen.
»Zum Garten, Alfred.«
Es dauerte lange, bis sie durchkamen. Aber dann lag der Garten sehr friedlich
im Morgenlicht da. Die Obstbäume blühten bereits an vielen Stellen, Narzissen
kamen heraus und Veilchen und Krokusse in allen Farben. Wie bunte Ostereier
lagen sie im hellen Grün der Blätter. Keine Untreue bei ihnen – sie kamen zur
Zeit und waren
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