E.M. Remarque
rosigen Mäulern an zu fressen, sanft und langsam. »Mucki«, lockte er, »komm
her, Mucki ...« Die Wärme des Stalles lullte ein. Sie war wie ein ferner Schlaf.
Der Geruch der Tiere brachte eine vergessene Unschuld nahe. Es war eine kleine
Welt für sich, von fast vegetativem Dasein, weit weg von Bomben, Intrigen und
Daseinskampf – Kohlblätter und Rüben und pelziges Zeugen und Geschorenwerden
und Gebären. Neubauer verkaufte die Wolle; aber er ließ nie ein Tier
schlachten.
»Mucki«, lockte er wieder.
Ein großer weißer Rammler nahm mit zarten Lippen das Blatt aus seiner Hand. Die
roten Augen leuchteten wie helle Rubine.
Neubauer kraulte ihm den Nacken. Seine Stiefel knarrten, während er sich
niederbeugte. Was hatte Selma gesagt? Sicher?
Da im Lager seid ihr sicher? Wer war schon sicher? Wann war er es jemals
wirklich gewesen?
Er schob mehr Kohlblätter durch die Drahtmaschen. Zwölf Jahre, dachte er. Vor
der Machtergreifung war ich Postsekretär mit knapp zweihundert Mark im Monat.
Konnte nicht leben und nicht sterben damit. Jetzt habe ich was. Ich will das
nicht wieder verlieren.
Er blickte in die roten Augen des Rammlers. Alles war gut gegangen heute. Es
würde weiter gut gehen. Das Bombardement konnte ein Versehen gewesen sein. So
etwas kam vor bei neu eingesetzten Formationen. Die Stadt war unbedeutend; man
hätte sie sonst schon früher zu zerstören versucht. Neubauer fühlte, wie er
ruhiger wurde. »Mucki«, sagte er und dachte: sicher? Natürlich sicher! Wer will
schon im letzten Moment hops gehen?
IV
V erdammte Saubande!
Noch einmal abzählen!«
Die Arbeitskommandos des großen Lagers standen in Zehnerreihen, nach Blocks
geordnet, stramm ausgerichtet auf dem Appellplatz. Es war bereits dunkel, und
in dem undeutlichen Licht wirkten die Häftlinge mit ihren gestreiften Anzügen
wie eine ungeheure Herde todmüder Zebras.
Der Appell dauerte schon über eine Stunde, aber er klappte noch immer nicht.
Das Bombardement war daran schuld. Die Kommandos, die im Kupferwerk arbeiteten,
hatten Verluste gehabt. Eine Bombe war in ihre Abteilung gefallen, und eine Anzahl
Leute war getötet und verletzt worden. Außerdem hatten die aufsichtführenden
SS-Mannschaften nach dem ersten Schreck angefangen, zwischen die Häftlinge zu
schießen, die Deckung suchten; sie hatten gefürchtet, sie wollten flüchten.
Dadurch war noch ein halbes Dutzend mehr umgekommen.
Nach dem Bombardement hatten die Gefangenen unter dem Schutt und Geröll ihre
Toten herausgeholt – oder das, was von ihnen übriggeblieben war. Es war wichtig
für den Appell. So gering das Leben eines Gefangenen auch geschätzt wurde und
so gleichgültig die SS sich dagegen verhielt: tot oder lebendig, die Zahl beim
Appell mußte stimmen. Die Bürokratie hielt vor Leichen nicht inne.
Die Kommandos hatten sorgfältig alles mitgenommen, was sie finden konnten;
manche Leute hatten einen Arm, andere Beine und abgerissene Köpfe getragen. Die
paar Bahren, die man hatte zusammenschlagen können, waren für Verwundete
benutzt worden, denen Glieder fehlten oder deren Bäuche zerfetzt waren.
Den Rest der Verletzten hatten die Kameraden gestützt und mitgeschleppt, so gut
es ging. Verbände hatte man wenig machen können; es war kaum etwas dafür da
gewesen.
Mit Drähten und Bindfäden hatte man notdürftig die Verblutenden abgebunden.
Die Bauchverletzten auf den Bahren hatten ihre Eingeweide mit den eigenen
Händen festhalten müssen.
Der Zug war mühselig den Berg hinaufgeklettert. Unterwegs waren noch zwei Leute
gestorben. Sie wurden tot weiter mitgeschleppt. Das hatte zu einem Zwischenfall
geführt, bei dem sich der
Weitere Kostenlose Bücher