E.M. Remarque
erstenmal
ausgesprochen.
Man kann es kaum sagen, dachte er, es erschlägt einen fast, es ist ein so
ungeheures Wort. Ich habe es vermieden durch all die Jahre, es hätte mich
zerfressen, wenn ich es gedacht hätte; – aber jetzt ist es wiedergekommen,
heute, man wagt noch nicht, es ganz auszudenken, aber es ist da, und entweder
zerbricht es mich nun oder es wird wahr.
»Leo«, sagte er. »Das da unten bedeutet, daß auch dieses hier kaputtgehen
wird.«
Lebenthal rührte sich nicht. »Wenn sie den Krieg verlieren,«, flüsterte er.
»Nur dann! Aber wer weiß das?« Er sah sich unwillkürlich ängstlich um.
Das Lager war in den ersten Jahren ziemlich gut über den Verlauf des Krieges
informiert gewesen. Später jedoch, als die Siege ausblieben, hatte Neubauer
verboten, Zeitungen hereinzubringen und Nachrichten über den Rückzug im
Lagerradio bekanntzugeben. Die wildesten Gerüchte hatten seitdem die Baracken
durchjagt; und schließlich hatte keiner mehr gewußt, was er wirklich glauben
sollte. Der Krieg ging schlecht, das wußte man; aber die Revolution, auf die
viele seit Jahren gewartet hatten, war nie gekommen.
»Leo«, sagte 509. »Sie verlieren ihn. Es ist das Ende. Wenn das da unten im
ersten Jahre des Krieges passiert wäre, würde es nichts bedeuten. Daß es jetzt
nach fünf Jahren geschieht, heißt, daß die anderen gewinnen.«
Lebenthal sah sich wiederum um. »Wozu redest du darüber?«
509 kannte den Aberglauben der Baracken. Was man aussprach, verlor an
Sicherheit und Kraft – und eine getäuschte Hoffnung war immer ein schwerer
Verlust an Energie. Das war auch der Grund für die Vorsicht der anderen. »Ich
rede darüber, weil wir jetzt darüber reden müssen«, sagte er. »Es ist Zeit
dafür. Jetzt wird es uns helfen, durchzustehen. Diesmal ist es keine
Latrinenparole. Es kann nicht mehr lange dauern. Wir müssen ...« Er stockte.
»Was?« fragte Lebenthal.
509 wußte es selbst nicht genau. Durchkommen, dachte er.
Durchkommen und noch mehr. »Es ist ein Rennen«, sagte er schließlich. »Ein Wettrennen,
Leo – mit ...«
Mit dem Tode, dachte er; aber er sprach es nicht aus. Er zeigte in die Richtung
der SS-Kasernen.
»Mit denen da! Wir dürfen jetzt nicht noch verlieren. Das Ende ist in Sicht,
Leo!« Er packte Lebenthal am Arm. »Wir müssen jetzt alles tun ...«
»Was können wir schon tun?«
509 fühlte, daß sein Kopf schwamm, als hätte er getrunken. Er war nicht mehr
gewöhnt, viel zu denken und zu sprechen. Und er hatte lange nicht so viel
gedacht wie heute. »Hier ist etwas«, sagte er und holte den Goldzahn aus der
Tasche. »Von Lohmann. Wahrscheinlich nicht eingetragen. Können wir ihn
verkaufen?«
Lebenthal wog den Klumpen in der Hand. Er zeigte keine Überraschung.
»Gefährlich. Kann nur gemacht werden mit jemand, der aus dem Lager heraus kann
oder Verbindung nach draußen hat.«
»Wie, ist egal. Was können wir dafür kriegen? Es muß rasch gehen!«
»Das geht nicht so rasch. So etwas muß befingert werden. Das verlangt Kopf,
sonst sind wir am Galgen oder sind es los ohne einen Pfennig.«
»Kannst du es nicht heute Abend noch machen?«
Lebenthal ließ die Hand mit dem Zahn sinken. »509«, sagte er. »Gestern warst du
noch vernünftig.«
»Gestern ist lange her.«
Ein Krach kam von der Stadt und gleich darauf ein klarer, hallender Glockenton.
Das Feuer hatte das Gebälk des Kirchturms durchfressen, und die Glocke war
gerutscht.
Lebenthal hatte sich erschreckt geduckt. »Was war das?« fragte er.
509 verzog die Lippen. »Ein Zeichen, Leo, daß gestern lange her ist.«
»Es war eine Glocke. Wieso hat die Kirche da unten noch eine Glocke? Sie haben
doch alle Glocken zu Kanonen eingeschmolzen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie die eine vergessen. Also wie ist es
mit dem Zahn heute Abend? Wir brauchen Fraß für die
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