E.M. Remarque
Blockältester! Was fällt Ihnen ein? Wozu sind
Sie da? Vortreten, der Kerl da!«
Ahasver trat vor. »Zu alt«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück. »Einen
Augenblick. Ich glaube, wir sollten das anders machen.«
»Leute«, sagte er dann sanft. »Ihr gehört ins Hospital. Alle. Im Lagerlazarett
ist kein Platz mehr. Ich kann sechs von euch anderswo unterbringen. Ihr braucht
Suppen, Fleisch und kräftige Kost. Die sechs, die es am nötigsten haben,
vortreten.« Niemand trat vor. An solche Märchen glaubte keiner im Lager. Die
Veteranen hatten Wiese außerdem wiedererkannt. Sie wußten, daß er schon
einigemale Leute geholt hatte. Keiner war wiedergekommen.
»Ihr habt wohl noch zu viel zu fressen, was?« schnauzte Weber. »Das werden wir
ändern. Sechs Mann vortreten, aber flott!«
Aus Sektion B taumelte ein Skelett nach vorn und blieb stehen. »Gut«, sagte
Wiese und musterte es. »Sie sind vernünftig, lieber Mann. Wir werden Sie schon
auffüttern.«
Ein zweiter folgte. Dann noch einer. Es waren neue Zugänge.
»Los! Drei mehr!« rief Weber ärgerlich. Er hielt die Sache mit dem freiwilligen
Melden für eine Kateridee Neubauers. Man befahl auf der Schreibstube, und die
sechs Leute wurden geliefert, fertig.
Wieses Mundwinkel zuckten. »Ich garantiere euch persönlich für gute Kost,
Leute. Fleisch, Kakao, nahrhafte Suppen!«
»Herr Stabsarzt«, sagte Weber. »Die Bande versteht nicht, wenn man so mit ihr
redet.«
»Fleisch?« fragte das Skelett Wassja, das wie hypnotisiert neben 509 stand.
»Natürlich, mein lieber Mann.« Wiese wandte sich ihm zu. »Täglich. Täglich
Fleisch!«
Wassja kaute. 509 stieß ihn warnend mit dem Ellbogen an.
Es war kaum eine Bewegung gewesen; aber Weber hatte sie trotzdem bemerkt.
»Sauhund!« Er trat 509 gegen den Bauch. Es war kein übermäßig kräftiger Tritt;
es war ein Warntritt, kein Straftritt, nach Webers Meinung. Aber 509 fiel um.
»Aufstehen, Schwindler!«
»Nicht so, nicht so«, murmelte Wiese und hielt Weber zurück. »Ich muß sie heil
haben.«
Er beugte sich über 509 und tastete ihn ab. Nach einer Weile öffnete 509 die
Augen.
Er sah Wiese nicht an. Er sah Weber an.
Wiese richtete sich auf. »Sie müssen ins Hospital, lieber Mann. Wir werden für
Sie sorgen.«
»Ich bin nicht verletzt«, keuchte 509 und stand mit Mühe auf.
Wiese lächelte. »Das weiß ich als Arzt besser.« Er wandte sich an Weber. »Das
wären noch zwei. Nun der letzte. Ein jüngerer.« Er zeigte auf Bucher, der auf
der anderen Seite neben 509 gestanden hatte. »Der vielleicht ...«
»Marsch, 'raus!«
Bucher trat neben 509 und die anderen. Weber sah jetzt durch die Lücke, die
entstanden war, den tschechischen Knaben Karel. »Da ist noch eine halbe
Portion. Wollen Sie die als Zugabe haben?«
»Danke. Ich brauche ausgewachsene Leute. Diese genügen. Herzlichen Dank.«
»Gut. Ihr sechs meldet euch in fünfzehn Minuten auf der Schreibstube.
Blockältester! Nummern notieren! Gewaschen, ihr dreckigen Schweine!«
Sie standen, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Keiner sprach.
Sie wußten, was es bedeutete. Nur Wassja grinste. Er war schwachsinnig vor
Hunger und glaubte, was Wiese gesagt hatte.
Die drei Neuen starrten stumpf ins Leere; sie wären willenlos jedem Befehl
gefolgt, auch dem, in den elektrisch geladenen Draht zu laufen. Ahasver lag am
Boden und stöhnte. Handke hatte ihn mit einem Knüppel verprügelt, nachdem Weber
und Wiese gegangen waren.
»Josef!« Eine schwache Stimme kam vom Frauenlager herüber.
Bucher rührte sich nicht. Berger stieß ihn an. »Da ist Ruth Holland.«
Das Frauenlager lag links neben dem Kleinen Lager und war von ihm durch einen
doppelten, ungeladenen Stacheldraht getrennt. Es bestand nur aus zwei kleinen
Baracken, die während des Krieges
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