E.M. Remarque
Brotstück gesehen. Er stolperte rasch heran, den Mund
weit offen, umklammerte den Arm von 509 und schnappte danach. 509 stieß ihn weg
und schob das Brotstück in die Hand von Karel, der die ganze Zeit schweigend
neben ihm gestanden hatte. Der Muselmann griff nach Karel.
Der Junge trat ihm ruhig und genau gegen das Schienbein. Der Muselmann
schwankte, und die anderen stießen ihn weg.
Karel sah 509 an. »Werdet ihr vergast?« fragte er sachlich.
»Hier gibt es keine Gaskammern, Karel. Du solltest das wissen«, sagte Berger
ärgerlich.
»Das haben sie uns in Birkenau auch gesagt. Wenn sie euch Handtücher geben und
euch sagen, ihr sollt baden, dann ist es Gas.«
Berger schob ihn beiseite. »Geh und iß dein Brot, sonst nimmt es dir ein
anderer weg.«
»Ich passe schon auf.« Karel stopfte das Brot in den Mund. Er hatte gefragt,
wie man nach einem Reiseziel fragt, und hatte nichts Böses gemeint. Er war in
Konzentrationslagern aufgewachsen und kannte nichts anderes.
»Kommt ...« sagte 509.
Ruth Holland begann zu weinen. Ihre Hände hingen wie Vogelkrallen am
Stacheldraht.
Sie fletschte die Zähne und stöhnte. Sie hatte keine Tränen.
»Kommt ...« sagte 509 noch einmal. Er ließ die Augen über die Zurückbleibenden
gleiten. Die meisten waren schon gleichgültig in die Baracken zurückgekrochen.
Nur die Veteranen und ein paar andere standen da. Es schien 509 plötzlich, als
habe er noch etwas ungeheuer Wichtiges zu sagen, etwas, von dem alles abhinge.
Er mühte sich mit aller Kraft, aber er konnte es nicht in Gedanken und Worte
bringen.
»Vergeßt dies nicht«, sagte er schließlich nur.
Keiner erwiderte etwas. Er sah, daß sie es vergessen würden.
Sie hatten ähnliches schon zu oft gesehen. Bucher hätte es vielleicht nicht
vergessen, er war jung genug; aber der mußte mit.
Sie stolperten den Weg entlang. Sie hatten sich nicht gewaschen. Das war ein
Witz Webers gewesen; das Lager hatte nie genug Wasser. Sie gingen vorwärts. Sie
sahen sich nicht um.
Sie kamen durch die Stacheldrahtpforte, die das Kleine Lager abtrennte.
Die Krepierpforte. Wassja schmatzte. Die drei Neuen gingen wie Automaten. Sie
kamen an den ersten Baracken des Arbeitslagers vorbei. Die Kommandos waren
längst ausgerückt.
Die Baracken waren leer und trostlos; aber sie schienen 509 jetzt das
Begehrenswerteste der Welt zu sein. Sie waren plötzlich Geborgenheit, Leben und
Sicherheit. Er hätte hineinkriechen und sich verstecken mögen, fort von diesem
erbarmungslosen Gang in den Tod. Zwei Monate zu früh, dachte er stumpf.
Vielleicht nur zwei Wochen zu früh. Alles umsonst. Umsonst.
»Kamerad«, sagte plötzlich jemand neben ihm. Es war vor Baracke 13. Der Mann
stand vor der Tür und hatte ein Gesicht, das schwarz mit Bartstoppeln war.
509 blickte auf. »Vergeßt das nicht«, murmelte er. Er kannte den Mann nicht.
»Wir werden es nicht vergessen«, erwiderte der Mann. »Wohin geht ihr?«
Die Leute, die im Arbeitslager zurückgeblieben waren, hatten Weber und Wiese
gesehen. Sie wußten, daß das etwas Besonderes bedeuten mußte.
509 blieb stehen. Er sah den Mann an. Auf einmal war er nicht mehr stumpf. Er
fühlte wieder das Wichtige, das er noch zu sagen hatte, das, was nicht verloren
gehen durfte. »Vergeßt es nicht«, flüsterte er eindringlich. »Nie! Nie!«
»Nie!« wiederholte der Mann mit fester Stimme. »Wohin müßt ihr?«
»In ein Hospital. Als Versuchskaninchen. Vergeßt es nicht. Wie heißt du?«
»Lewinsky, Stanislaus.«
»Vergiß es nicht, Lewinsky«, sagte 509. Es war ihm, als habe es mehr Kraft mit
dem Namen. »Lewinsky, vergiß es nicht.«
»Ich werde es nicht vergessen.«
Lewinsky rührte mit der Hand an die Schulter von 509. 509 spürte es weiter als
nur bis zur Schulter. Er sah Lewinsky noch
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