E.M. Remarque
eingerichtet worden waren, als die neuen
Massenverhaftungen begannen. Früher waren keine Frauen im Lager gewesen.
Bucher hatte vor zwei Jahren einige Wochen als Tischler drüben gearbeitet.
Dabei hatte er Ruth Holland getroffen. Beide hatten sich heimlich ab und zu für
kurze Zeit sehen und sprechen können; dann war Bucher zu einem anderen Kommando
versetzt worden. Sie hatten sich erst wiedergesehen, als er ins Kleine Lager
eingeliefert worden war. Manchmal, nachts oder bei Nebel, hatten sie dann
miteinander flüstern können.
Ruth Holland stand hinter dem Stacheldraht, der die beiden Lager trennte. Der
Wind wehte den gestreiften Kittel um ihre dünnen Beine. »Josef!« rief sie
wieder.
Bucher hob den Kopf. »Geh vom Draht weg! Sie sehen dich!«
»Ich habe alles gehört. Tu es nicht!«
»Geh vom Draht weg, Ruth. Der Posten kann schießen.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar war kurz und völlig grau.
»Du nicht! Bleib hier! Geh nicht! Bleib hier, Josef!«
Bucher sah hilflos zu 509 hinüber. »Wir kommen wieder«, sagte 509 für ihn.
»Er kommt nicht wieder. Ich weiß es. Und du weißt es auch.«
Sie preßte die Hände gegen den Draht. »Nie kommt jemand wieder.«
»Geh zurück, Ruth.« Bucher blickte nach den Wachtürmen. »Es ist gefährlich, da
zu stehen.«
»Er kommt nicht wieder! Ihr wißt es alle!«
509 erwiderte nichts. Es war nichts zu erwidern. Er war taub in sich selbst. Er
hatte kein Gefühl mehr. Nicht für andere und nicht für sich selbst. Alles war
vorbei, er wußte es, aber er fühlte es noch nicht. Er fühlte nur, daß er nichts
fühlte.
»Er kommt nicht wieder«, wiederholte Ruth Holland. »Er soll nicht gehen.«
Bucher starrte auf den Boden. Er war zu benommen, um weiter zu antworten. »Er
soll nicht gehen«, sagte Ruth Holland.
Es war wie eine Litanei. Monoton, ohne Erregung.
Es war schon jenseits aller Erregung. »Jemand anders soll gehen. Er ist jung.
Jemand anders soll für ihn gehen ...«
Niemand antwortete. Jeder wußte, daß Bucher gehen mußte.
Die Nummern waren von Handke aufgeschrieben worden. Und wer wäre schon für ihn
gegangen?
Sie standen und sahen sich an. Die, die gehen mußten, und die, die
zurückblieben.
Sie sahen sich an. Wenn ein Blitz eingeschlagen und Bucher und 509 getötet
hätte, wäre es erträglicher gewesen. Es war unerträglich, weil in diesem
letzten Blick noch die Lüge war, das schweigende: warum ich? Gerade ich? auf
der einen – und das: Gottlob, nicht ich! Nicht ich! auf der anderen Seite.
Ahasver richtete sich langsam vom Boden auf. Er starrte noch einen Augenblick
benommen vor sich hin; dann erinnerte er sich. Er flüsterte etwas.
Berger drehte sich um. »Ich bin schuld«, krächzte der Alte plötzlich. »Ich –
mein Bart – dadurch ist er hergekommen! Sonst wäre er drüben geblieben. Oi ...«
Er begann mit beiden Händen an seinem Bart zu zerren.
Tränen stürzten ihm übers Gesicht. Er war zu schwach, um sich die Haare
auszureißen. Er saß auf dem Boden und zerrte seinen Kopf hin und her.
»Geh in die Baracke«, sagte Berger scharf.
Ahasver starrte ihn an. Dann ließ er sich vornüber aufs Gesicht fallen und
heulte.
»Wir müssen gehen«, sagte 509.
»Wo ist der Zahn?« fragte Lebenthal.
509 griff in die Tasche und hielt ihn Lebenthal hin. »Hier ...«
Lebenthal nahm ihn. Er zitterte. »Dein Gott!« stammelte er und machte eine vage
Bewegung zur Stadt und der ausgebrannten Kirche hinunter. »Deine Zeichen! Deine
Feuersäule!« 509 tastete wieder nach seiner Tasche. Er hatte das Stück Brot
gefühlt, während er den Zahn herausnahm. Was hatte es nun genützt, daß er es
nicht gegessen hatte. Er hielt es Lebenthal hin.
»Iß es selbst«, sagte Lebenthal wütend und hilflos. »Es ist deins.«
»Für mich hat es keinen Zweck mehr.«
Ein Muselmann hatte das
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