E.M. Remarque
und es wäre erledigt; aber ich werde das nicht
tun. Ich werde euren Trotz erst einmal in aller Gemütlichkeit brechen. Ihr
werdet das selbst unterschreiben. Ihr werdet mich auf den Knien bitten, unterschreiben
zu dürfen, wenn ihr es dann noch könnt.«
509 sah Webers Kopf dunkel vor dem Fenster. Der Kopf schien sehr groß vor dem
Himmel dahinter. Der Kopf war Tod und der Himmel dahinter plötzlich Leben,
Leben, ganz gleich wo und wie, verlaust, zerschlagen, blutend, Leben trotz
allem, einen jähen Augenblick lang – dann brach die Stumpfheit hölzern hinein,
die Nerven erloschen barmherzig wieder, und nichts war mehr da als das matte
Dröhnen. Wozu wehre ich mich, dachte etwas trübe in ihm, als er wieder aufwachte
– es ist doch egal, hier totgeschlagen zu werden oder zu unterschreiben und
durch eine Spritze erledigt zu werden, schneller als hier, schmerzloser –, dann
hörte er eine Stimme neben sich, seine eigene Stimme, mit der ein anderer zu
sprechen schien – »nein – ich unterschreibe nicht – und wenn Sie mich
totschlagen ...« .
Weber lachte. »Das möchtest du wohl, du Gerippe! Damit es vorbei ist, wie?
Totschlagen dauert Wochen bei uns. Wir fangen gerade erst an.«
Er nahm den Koppelriemen wieder auf. Der Schlag traf 509 über die Augen. Er
verletzte sie nicht; sie waren zu tief eingesunken. Der zweite traf die Lippen.
Sie rissen ein wie trockenes Pergament. Nach ein paar weiteren Hieben über den
Schädel mit dem Koppelschloß war er wieder bewußtlos.
Weber schob ihn beiseite und schlug auf Bucher los. Bucher versuchte, sich
wegzuducken; aber er war viel zu langsam. Der Schlag traf ihn über die Nase. Er
krümmte sich, und Weber trat ihm zwischen die Beine. Bucher schrie. Er spürte
noch das Koppelschloß einige Male in seinen Nacken hacken, dann fiel er wieder
in den Sturm der Dunkelheit.
Er hörte verworrene Stimmen; aber er rührte sich nicht.
Solange er bewußtlos schien, würde er nicht weitergeschlagen werden. Die
Stimmen gingen über ihn hinweg, endlos. Er versuchte, nicht hinzuhören, aber
sie kamen näher und stachen in seine Ohren und sein Gehirn.
»Bedauere, Herr Doktor, aber wenn die Leute nicht freiwillig wollen – Sie
sehen, Weber hat ihnen gründlich zugeredet.«
Neubauer war glänzender Laune. Seine Erwartungen waren weit übertroffen worden.
»Haben Sie das hier verlangt?« fragte er Wiese.
»Selbstverständlich nicht.«
Bucher versuchte vorsichtig zu blinzeln. Aber er konnte seine Augenlider nicht
kontrollieren. Sie klappten auf wie die einer mechanischen Puppe. Er sah Wiese
und Neubauer. Dann sah er 509. 509 hatte die Augen ebenfalls offen. Weber war
nicht mehr da.
»Selbstverständlich nicht«, erklärte Wiese noch einmal. »Als Kulturmensch ...«
»Als Kulturmensch«, unterbrach Neubauer ihn, »brauchen Sie diese Leute für Ihre
Experimente, nicht wahr?«
»Das ist eine Angelegenheit der Wissenschaft. Unsere Versuche retten
zehntausend anderen Menschen das Leben. Sie verstehen das vielleicht nicht ...«
»Doch. Aber Sie verstehen dieses hier vielleicht nicht. Es ist eine einfache
Sache der Disziplin. Überaus wichtig, ebenfalls.«
»Jeder auf seine Art«, erklärte Wiese hochmütig.
»Gewiß, gewiß. Bedaure, daß ich Ihnen nicht besser behilflich sein konnte. Aber
wir zwingen keinen unserer Schützlinge zu etwas. Und die Leute hier scheinen
eine Abneigung dagegen zu haben, das Lager zu verlassen.« Er wandte sich zu 509
und Bucher. »Ihr wollt also lieber im Lager bleiben?« 509 bewegte die Lippen.
»Was?« fragte Neubauer scharf.
»Ja«, sagte 509.
»Und du dort?«
»Ich auch«, flüsterte Bucher.
»Sehen Sie, Herr Stabsarzt?« Neubauer lächelte. »Die Leute lieben es hier. Da
ist nichts zu machen.«
Wiese
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