E.M. Remarque
Bunker entkommen. Der Befehl Neubauers war mit der
Entlassung ausgeführt und erledigt, und 509 und Bucher waren jetzt wieder
Freiwild. Jeder konnte seine Laune an ihnen austoben – von Weber ganz zu
schweigen, dessen Ehre es fast erfordert hätte, sie erledigen zu lassen, hätte
er gewußt, daß sie noch lebten.
»Was für ein Unsinn!« sagte einer der Träger mißmutig. »Da schleppen wir die
hier den ganzen Weg ins Kleine Lager, und morgen früh müssen sie bestimmt
wieder zurückgebracht werden. Die halten nicht einmal mehr ein paar Stunden
durch.«
»Was geht das dich an, du Idiot?« Der rothaarige Schreiber fauchte plötzlich
vor Wut. »Pack an! Vorwärts! Ist kein vernünftiger Mensch zwischen euch?«
»Hier«, sagte ein älterer Mann, der die Bahre, auf der 509 lag, anhob. »Was ist
mit ihnen los? Irgend etwas Besonderes?«
»Es sind zwei von Baracke 22.« Der Schreiber sah sich um und trat dicht an den
Träger heran. »Es sind die beiden, die sich vor zwei Tagen geweigert haben zu
unterschreiben.«
»Was zu unterschreiben?«
»Die Erklärung für den Meerschweinchendoktor. Die anderen vier hat er
mitgenommen.«
»Was? Und die hier werden nicht gehenkt?«
»Nein.« Der Schreiber ging noch einige Schritte neben den Bahren her. »Sie
sollen zurück zu den Baracken. Das war der Befehl. Macht deshalb rasch, bevor
jemand dazwischenkommt.«
»Ach so. Verstehe!«
Der Träger schritt plötzlich so kräftig aus, daß er dem vorderen Mann die Bahre
in die Kniekehle stieß. »Was ist los?« fragte der ärgerlich. »Bist du verrückt
geworden?«
»Nein. Laß uns die beiden erst mal von hier wegschaffen. Ich sage dir später,
warum.«
Der Schreiber blieb zurück. Die vier Träger marschierten jetzt schweigend und
eilig, bis sie die Administrationsgebäude hinter sich hatten. Die Sonne ging
unter. 509 und Bucher waren einen halben Tag länger im Bunker gewesen als
befohlen worden war.
Diese kleine Variation hatte Breuer sich nicht nehmen lassen.
Der vordere Träger drehte sich um. »Also, was ist los? Sind das hier besondere
Bonzen?«
»Nein. Aber es sind zwei von den Sechsen, die Weber Freitag aus dem Kleinen
Lager geholt hat.«
»Was haben sie denn mit denen gemacht? Die sehen doch aus, als ob sie einfach
zerschlagen worden sind.«
»Das sind sie auch. Weil sie sich geweigert haben, mit dem Stabsarzt zu gehen,
der dabei war. Versuchsstation vor der Stadt, sagt der rothaarige Schreiber. Er
hat schon öfter welche geholt.«
Der vordere Träger stieß einen Pfiff aus. »Verdammt, und da leben die noch?«
»Das siehst du ja.«
Der erste schüttelte den Kopf, »Und jetzt werden sie aus dem Bunker sogar
zurückgeschickt? Nicht gehenkt? Was ist los? So was habe ich lange nicht
erlebt!«
Sie kamen zu den ersten Baracken. Es war Sonntag. Die Arbeitskommandos hatten
den Tag über gearbeitet und waren vor kurzem eingerückt. Die Straßen waren voll
von Gefangenen.
Die Nachricht verbreitete sich im Augenblick.
Man hatte im Lager gewußt, wozu die sechs Mann abgeholt worden waren. Man hatte
auch gewußt, daß 509 und Bucher im Bunker waren; das war über die Schreibstube
rasch bekannt und wieder vergessen worden. Niemand hatte sie lebend zurückerwartet.
Jetzt aber kamen sie – und sogar jeder, der nicht Bescheid wußte, konnte sehen,
daß sie nicht zurückkamen, weil sie unbrauchbar gewesen waren, sonst wären sie
nicht so zerschlagen gewesen.
»Komm«, sagte jemand aus der Menge zu dem hinteren Träger. »Ich helfe dir
tragen. Es geht dann besser.«
Er faßte einen der Bahrengriffe. Ein anderer trat hinzu und nahm den zweiten,
vorderen Griff. Gleich darauf wurde jede Bahre von vier Gefangenen getragen. Es
war nicht nötig, 509 und Bucher waren nicht schwer; aber die Häftlinge wollten
etwas für sie tun,
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