E.M. Remarque
Stelle tropfte Mondlicht hindurch. 509 hatte sich aufgerichtet.
Sein Gesicht war schwarz und blau und grün von Blutergüssen. Bucher erinnerte
sich plötzlich an alte Geschichten über ihn und Weber, die er gehört hatte. Er
mußte selbst einmal einer der Leute gewesen sein, von denen er sprach.
»Hör zu«, sagte 509. »Und höre gut zu. Es ist eine billige Romanphrase, daß
Geist nicht zu brechen sei. Ich habe gute Leute gekannt, die nichts mehr waren
als heulende Tiere. Fast jeden Widerstand kann man brechen; man braucht nur
genügend Zeit und Gelegenheit dazu. Das haben die da drüben ...« , er machte eine
Gebärde zu den SS-Kasernen hinüber, »die haben es ganz gut gewußt. Und sie sind
immer dahinter her gewesen. Bei Widerstand kommt es nur darauf an, was man
damit erreicht; nicht wie es aussieht. Sinnloser Mut ist sicherer Selbstmord.
Unser bißchen Widerstand aber ist das einzige, was wir noch haben. Wir müssen
es verstecken, damit sie es nicht finden – es nur in äußerster Not gebrauchen
–, so wie wir es bei Weber getan haben. Sonst ...«
Das Mondlicht hatte den Körper Westhofs erreicht. Es huschte über sein Gesicht
und seinen Nacken. »Ein paar von uns müssen übrigbleiben«, flüsterte 509. »Für
später. Dieses alles darf nicht umsonst gewesen sein. Ein paar, die nicht
kaputt sind.«
Er lehnte sich erschöpft zurück. Denken erschöpfte ebenso wie Laufen. Meistens
konnte man es nicht vor Hunger und Schwäche; aber manchmal kam dazwischen eine
seltsame Leichtigkeit, alles war überdeutlich, und man konnte kurze Zeit weit
sehen – bis der Nebel der Müdigkeit alles wieder überkroch.
»Ein paar, die nicht kaputt sind und die nicht vergessen wollen«, sagte 509.
Er sah Bucher an. Er ist über zwanzig Jahre jünger als ich, dachte er. Er kann
noch viel tun. Er ist noch nicht kaputt. Und ich? Die Zeit, dachte er,
plötzlich verzweifelt.
Sie fraß und fraß. Man würde es erst merken, wenn dieses hier vorbei war. Man
würde erst wirklich merken, ob man kaputt war, wenn man wieder neu anfangen
wollte draußen. Diese zehn Jahre im Lager zählten für jeden doppelt und
dreifach. Wer hatte noch Kraft genug? Und es würde viel Kraft gebraucht werden.
»Man wird vor uns nicht auf die Knie fallen, wenn wir hier herauskommen«, sagte
er. »Man wird alles ableugnen und vergessen wollen. Uns auch. Und viele von uns
werden es auch vergessen wollen.«
»Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte Bucher finster. »Dieses nicht und
alles nicht.«
»Gut.« Die Welle der Erschöpfung kam stärker. 509 schloß die Augen, öffnete sie
aber gleich wieder. Da war noch etwas, das er aussprechen mußte, bevor er es
wieder verlor. Bucher sollte es wissen. Vielleicht war er der einzige, der
durchkommen würde.
Es war wichtig, daß er es wußte. »Handke ist kein Nazi«, sagte er mit Mühe. »Er
ist ein Gefangener wie wir. Draußen hätte er wahrscheinlich nie einen Menschen
getötet. Hier tut er es, weil er die Macht dazu hat. Er weiß, daß es uns nichts
nützt, wenn wir uns beschweren. Er wird gedeckt. Er hat keine Verantwortung.
Das ist es. Macht und keine Verantwortung – zu viel Macht, in falschen Händen,
zu viel Macht überhaupt – in irgendeiner Hand –, verstehst du ...«
»Ja«, sagte Bucher.
509 nickte. »Das und das andere – die Trägheit des Herzens – die Angst – die
Drückebergerei des Gewissens – das ist unser Elend – darüber habe ich heute –
den ganzen Abend nachgedacht ...«
Die Müdigkeit war jetzt wie eine schwarze Wolke, die lähmend näher kam. 509 zog
ein Stück Brot aus der Tasche. »Hier – ich brauche das nicht – habe mein
Fleisch gehabt – gib es Ruth ...«
Bucher sah ihn an und rührte sich nicht. »Habe alles gehört vorhin drüben«,
sagte 509 mit schwerer Stimme, schon voll von Niedersinken. »Gib es ihr – es
ist ...« sein
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