E.M. Remarque
– lautlos kam es plötzlich über
ihn, etwas, das immer schon irgendwo gelauert hatte, in den Ecken, verscheucht,
weggetrieben, nicht durchgelassen, solange sein eigener Besitz unangetastet war
– der Zweifel, die Angst, die bisher durch eine stärkere Gegenangst in Schach
gehalten worden waren – plötzlich brachen sie aus ihren Käfigen und starrten
ihn an, sie saßen in den Trümmern des Zigarrenladens, sie ritten auf den Ruinen
des Zeitungsgebäudes, sie grinsten ihn an, und ihre Klauen drohten in die
Zukunft. Neubauers dicker roter Nacken wurde naß, unsicher trat er zurück und
sah einen Augenblick nichts mehr und wußte es und wollte es sich trotzdem nicht
eingestehen: daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte.
»Nein«, sagte er laut. »Nein, nein – es muß noch – der Führer – ein Wunder –
trotz allem – natürlich ...«
Er sah sich um. Da war niemand. Nicht einmal jemand zum Löschen.
Selma Neubauer schwieg endlich. Ihr Gesicht war verschwollen, der
seidene französische Morgenrock war voll von Tränenspuren, und die dicken Hände
bebten.
»Sie kommen diese Nacht nicht wieder«, sagte Neubauer ohne Überzeugung. »Die
ganze Stadt brennt ja. Was sollen sie da noch bombardieren?«
»Dein Haus, dein Geschäftsgebäude. Deinen Garten. Die stehen doch noch, wie?«
Neubauer bezwang seinen Ärger und die jähe Angst, daß es so sein könnte.
»Blödsinn! Deshalb kommen sie nicht extra.«
»Andere Häuser. Andere Läden. Andere Fabriken. Es stehen noch genug.«
»Selma ...«
Sie unterbrach ihn. »Du kannst sagen, was du willst! Ich komme 'rauf!« Ihr
Gesicht rötete sich wieder. »Ich komme 'rauf zu dir ins Lager, und wenn ich bei
den Gefangenen schlafen muß! Ich bleibe nicht hier in der Stadt! In dieser
Rattenfalle! Ich will nicht umkommen! Dir ist das natürlich egal, wenn du nur
sicher bist. Weit weg vom Schuß! Wie immer! Wir können es ja ausfressen! So
warst du immer!«
Neubauer blickte sie beleidigt an. »Ich war nie so. Und du weißt es! Sieh dir
deine Kleider an! Deine Schuhe! Deine Morgenröcke! Alles aus Paris! Wer hat sie
dir besorgt? Ich! Deine Spitzen! Das Feinste aus Belgien. Ich habe sie
eingehandelt für dich. Deinen Pelzmantel! Die Pelzdecke! Ich habe sie dir aus
Warschau kommen lassen. Sieh dir deinen Vorratskeller an. Dein Haus! Ich habe
gut für dich gesorgt!«
»Du hast eine Sache vergessen. Einen Sarg. Du kannst ihn jetzt noch rasch
besorgen. Särge werden nicht billig sein morgen früh. Es gibt sowieso kaum noch
welche in Deutschland. Aber du kannst ja einen machen lassen in deinem Lager
oben! Du hast ja genügend Leute dafür.«
»So? Das ist also der Dank! Der Dank für alles, was ich riskiert habe. Das ist
der Dank!«
Selma hörte nicht auf Neubauer. »Ich will nicht verbrennen! Ich will nicht in
Stücke gerissen werden!« Sie wandte sich an ihre Tochter. »Freya! Du hörst
deinen Vater! Deinen leiblichen Vater! Alles, was wir wollen, ist, nachts in
seinem Haus da oben schlafen. Nichts weiter. Unser Leben retten. Er weigert
sich. Die Partei. Was wird Dietz sagen? Was sagt Dietz zu den Bomben? Warum tut
die Partei da nichts? Die Partei ...«
»Ruhig, Selma!«
»Ruhig, Selma! Hörst du es, Freya? Ruhig! Stillgestanden! Ruhig gestorben!
Ruhig, Selma, das ist alles, was er weiß!«
»Fünfzigtausend Menschen sind in derselben Situation«, sagte Neubauer müde.
»Alle ...«
»Fünfzigtausend Menschen gehen mich nichts an. Fünfzigtausend Menschen fragen
auch nicht danach, wenn ich krepiere. Spar dir deine Statistik für Parteireden.«
»Mein Gott ...«
»Gott! Wo ist Gott? Ihr habt ihn weggejagt! Komm mir nicht mit Gott ...«
Warum haue ich ihr nicht eine herunter? dachte Neubauer.
Warum bin ich auf einmal so müde? Ich sollte ihr eine 'runterhauen! Scharf
auftreten!
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