E.M. Remarque
jemand. Dann sah er 509.
»Wer ist das hier? Westhof?« fragte er.
»Ja.«
»Ist er tot?«
»Ja.«
Bucher beugte sich dicht über das Gesicht am Boden. Es war feucht vom Nebel und
hatte dunkle Flecken von den Tritten Handkes. Er sah das Gesicht und dachte an
das verlorene Stück Fleisch, und beides schien ihm plötzlich zusammenzugehören.
»Verflucht«, sagte er. »Warum haben wir ihm nicht geholfen?«
509 sah auf. »Was redest du da für Unsinn? Konnten wir das denn?«
»Ja. Vielleicht. Warum nicht? Wir haben anderes gekonnt.«« 509 schwieg. Bucher
ließ sich neben ihn fallen. »Wir sind bei Weber durchgekommen«, sagte er.
509 blickte in den Nebel. Da war es schon wieder, dachte er.
Das falsche Heldentum.
Das alte Elend. Dieser Junge hatte zum erstenmal seit Jahren ein verzweifeltes
bißchen Aufruhr gespürt, das gut ausgegangen war – und ein paar Tage später
bereits begann die Phantasie mit der romantischen Verfälschung, die das Risiko
vergaß.
»Du meinst, wenn wir gegen den Lagerführer selbst durchgekommen sind, hätte das
auch bei einem betrunkenen Blockältesten klappen müssen, wie?«
»Ja. Warum nicht?«
»Und was hätten wir tun sollen?«
»Ich weiß nicht. Irgend etwas. Aber nicht Westhof einfach tottreten lassen.«
»Wir hätten zu sechs oder acht über Handke herfallen können. Meinst du das?«
»Nein. Das hätte nichts genützt. Er ist stärker als wir.«
»Was hätten wir dann tun sollen? Mit ihm reden? Ihm sagen, er solle vernünftig
sein?«
Bucher antwortete nicht. Er wußte, daß auch das nichts genützt hätte. 509
beobachtete ihn eine Weile. »Hör zu«, sagte er dann. »Bei Weber hatten wir
nichts zu verlieren. Wir haben uns geweigert und damit unbegreifliches Glück
gehabt. Hätten wir aber heute Abend irgend etwas gegen Handke unternommen, dann
hätte er noch ein, zwei mehr erschlagen und die Baracke wegen Meuterei
gemeldet. Berger und ein paar andere wären gehenkt worden. Westhof auf jeden
Fall. Du wahrscheinlich auch. Essenentzug für ein paar Tage wäre das nächste
gewesen. Das hätte ein Dutzend Tote mehr gemacht. Stimmt das?«
Bucher zögerte. »Vielleicht«, sagte er dann.
»Weißt du etwas anderes?«
Bucher dachte nach. »Nein.«
»Ich auch nicht. Westhof hatte den Lagerkoller. Ebenso wie Handke. Hätte er
gesagt, was Handke wollte, wäre er mit ein paar Schlägen weggekommen. Er war
ein guter Mann. Wir hätten ihn brauchen können. Er war ein Narr.« 509 wandte
sich Bucher zu. Seine Stimme war voll Bitterkeit. »Glaubst du, du bist der
einzige, der hier sitzt und über ihn nachdenkt?«
»Nein.«
»Vielleicht hätte er den Mund gehalten und lebte noch, wenn wir beide nicht bei
Weber durchgekommen wären. Vielleicht hat gerade das ihn heute unvorsichtig
gemacht. Hast du auch einmal darüber nachgedacht?«
»Nein.« Bucher starrte 509 an. »Glaubst du das?«
»Es kann sein. Ich habe größere Narrheiten erlebt. Und bei besseren Männern.
Und je besser die Männer, um so größer war oft die Narrheit, wenn sie glaubten,
Mut zeigen zu müssen. Verdammter Lesebuchquatsch! Kennst du Wagner von Baracke
21?«
»Ja.«
»Er ist eine Ruine. Aber er war ein Mann und hatte Mut. Zuviel. Er schlug
zurück. Zwei Jahre lang war er das Entzücken der SS. Weber liebte ihn beinahe.
Dann war er fertig. Für immer. Und für was? Wir hätten ihn gut gebrauchen
können. Aber er konnte seinen Mut nicht beherrschen. So gab es viele. Wenige
sind noch davon da. Und noch weniger, die nicht kaputt sind. Deshalb habe ich
dich heute Abend festgehalten, als Handke auf Westhof 'rumtrat. Und deshalb
habe ich geantwortet, als er fragte, was wir sind. Verstehst du das endlich?«
»Du glaubst, daß Westhof ...«
»Es ist egal. Er ist tot ...«
Bucher schwieg. Er sah 509 jetzt deutlicher. Der Nebel hatte sich etwas
gehoben, und an einer
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