E.M. Remarque
Kopf fiel nach vorn, aber er hob ihn noch einmal, und der von
Blutergüssen bunte Schädel leuchtete plötzlich – »auch wichtig – was zu geben
...«
Bucher nahm das Brot und ging zu dem Zaun hinüber, der das Frauenlager trennte.
Der Nebel schwebte jetzt mannshoch. Darunter war alles klar.
Es wirkte gespenstisch, als stolperten Muselmänner ohne Köpfe zur Latrine. Nach
einiger Zeit kam Ruth. Auch sie hatte keinen Kopf. »Bück dich«, flüsterte
Bucher.
Sie hockten beide auf dem Boden. Bucher warf das Brot hinüber. Er überlegte, ob
er ihr sagen sollte, daß er Fleisch für sie gehabt hatte. Er tat es nicht.
»Ruth«, sagte er. »Ich glaube, wir kommen hier heraus ...«
Sie konnte nicht antworten. Sie hatte den Mund voll Brot. Ihre Augen waren weit
aufgerissen, und sie blickte ihn an. »Ich glaube es jetzt sicher«, sagte
Bucher.
Er wußte nicht, warum er es plötzlich glaubte. Es hatte etwas mit 509 zu tun
und mit dem, was er gesagt hatte. Er ging zurück.
509 schlief fest. Sein Kopf lag dicht neben dem Kopf Westhofs.
Beide Gesichter waren voll von Blutergüssen, und Bucher konnte fast nicht
unterscheiden, wer von ihnen noch atmete. Er weckte 509 nicht. Er wußte, daß er
seit zwei Tagen hier draußen auf Lewinsky wartete. Die Nacht war nicht allzu
kalt; aber Bucher streifte trotzdem Westhof und zwei anderen Toten die Jacken
ab und deckte 509 damit zu.
IX
D er nächste Luftangriff
kam zwei Tage später. Die Sirenen begannen um acht Uhr Abends zu heulen. Kurz
darauf fielen die ersten Bomben. Sie fielen rasch wie ein Schauer, und die
Explosionen übertönten das Flakfeuer nur wenig. Erst zum Schluß kamen die
schweren Kaliber.
Die Mellener Zeitung brachte keine neue Ausgabe mehr heraus. Sie brannte. Die
Maschinen schmolzen. Die Papierrollen knatterten in den schwarzen Himmel, und
langsam stürzte das Haus zusammen.
Hunderttausend Mark, dachte Neubauer. Da verbrennen hunderttausend Mark, die
mir gehören. Hunderttausend Mark.
Ich habe nicht gewußt, daß so viel Geld so leicht brennen kann.
Diese Schweine! Hätte ich es gewußt, ich hätte mich an einem Bergwerk
beteiligt. Aber Bergwerke brennen auch. Werden ebenso gebombt. Sind auch nicht
mehr sicher. Das Ruhrgebiet soll verwüstet sein. Was ist noch sicher?
Seine Uniform war grau von Papierruß. Seine Augen waren rot vom Rauch. Der
Zigarrenladen gegenüber, der ihm auch gehört hatte, war eine Ruine. Gestern
noch eine Goldgrube, heute ein Aschenhaufen. Noch einmal dreißigtausend Mark.
Vielleicht sogar vierzigtausend. Man konnte viel Geld verlieren an einem Abend.
Die Partei? Jeder dachte an sich selbst. Die Versicherung? Die ging pleite,
wenn sie alles auszahlen mußte, was heute Abend verwüstet worden war. Außerdem
hatte er alles zu niedrig versichert. Sparsamkeit am falschen Platze. Ob
Bombenschäden anerkannt werden würden, war dazu noch unwahrscheinlich. Nach dem
Krieg würde die große Wiedergutmachung kommen, so hieß es immer, nach dem Sieg;
der Gegner müsse alles bezahlen. Hatte sich was damit! Darauf konnte man
wahrscheinlich lange warten.
Und jetzt war es zu spät, etwas Neues anzufangen. Wozu auch? Was würde morgen
brennen? Er starrte auf die schwarzen, zerplatzten Mauern des Ladens. »Deutsche
Wacht«, fünftausend »Deutsche Wacht«-Zigarren waren mitverbrannt.
Schön. Das war egal.
Aber wozu hatte er nun damals den Sturmführer Freiberg angezeigt? Pflicht?
Quatsch, Pflicht! Da brannte seine Pflicht. Verbrannte. Hundertdreißigtausend
Mark zusammen. Noch ein solches Feuer, ein paar Bomben in Josef Blanks
Geschäftshaus, ein paar in seinen Garten und in sein eigenes Wohnhaus – morgen
konnte das schon sein –, und er war wieder da, wo er angefangen hatte. Oder
nicht einmal das! Älter! Schlechter dran! Denn
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