E.M. Remarque
waren dabei.
»Marsch, dorthin!« sagte Schulte. »Ausziehen helfen und Sachen notieren!
Lagerkleidung auf einen Haufen, Zivilsachen auf einen anderen, Schuhe extra.
Vorwärts.«
Schulte war ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, blond, mit grauen Augen
und einem klaren, regelmäßigen Gesicht. Er hatte schon vor der Machtergreifung
zur Hitlerjugend gehört und war dort erzogen worden. Er hatte gelernt, daß es
Herrenmenschen und Untermenschen gab, und er glaubte es fest. Er kannte die
Rassentheorien und die Parteidogmen, und sie waren seine Bibel. Er war ein
guter Sohn, aber er hätte seinen Vater angezeigt, wenn er gegen die Partei
gewesen wäre. Die Partei war unfehlbar für ihn; er kannte nichts anderes. Die
Insassen des Lagers waren Feinde der Partei und des Staates und standen deshalb
außerhalb der Begriffe von Mitleid oder Menschlichkeit. Sie waren geringer als
Tiere.
Wenn sie getötet wurden, so war das, als tötete man schädliche Insekten.
Schulte hatte ein völlig ruhiges Gewissen.
Er schlief gut, und das einzige, was er bedauerte, war, nicht an der Front zu
sein. Das Lager hatte ihn wegen eines Herzfehlers reklamiert. Er war ein
zuverlässiger Freund, liebte Musik und Poesie und hielt Folter für ein
unumgängliches Mittel, um Informationen von Verhafteten zu bekommen, weil alle
Feinde der Partei logen. Er hatte in seinem Leben auf Befehl sechs Menschen
getötet und nie darüber nachgedacht – zwei davon langsam, um Mithelfer genannt
zu bekommen. Er war verliebt in die Tochter eines Landgerichtsrats und schrieb
ihr hübsche, etwas romantische Briefe. In seiner Freizeit sang er gern. Er
hatte einen netten Tenor.
Die letzten nackten Leichen wurden neben dem Aufzug aufgeschichtet. Mosse und
Brede trugen sie heran. Mosses Gesicht war entspannt. Er lächelte Berger zu.
Seine Furcht draußen war ohne Grund gewesen. Er hatte geglaubt, an den Galgen
zu kommen.
Jetzt arbeitete er, so wie es ihnen gesagt worden war. Es war in Ordnung. Er
war gerettet. Er arbeitete rasch, um seinen guten Willen zu zeigen.
Die Tür öffnete sich, und Weber trat ein.
»Achtung!«
Alle Häftlinge standen stramm. Weber trat mit blanken, eleganten Stiefeln an
den Tisch. Er liebte gute Stiefel; sie waren fast seine einzige Leidenschaft.
Vorsichtig klopfte er eine Zigarette ab, die er gegen den Leichengestank
angezündet hatte.
»Fertig?« fragte er Schulte.
»Jawohl, Sturmführer. Soeben. Alles verbucht und aufgenommen.«
Weber sah in die Kästen mit dem Gold. Er hob die Medaille heraus, die die
stehende Leiche getragen hatte.
»Was ist das?«
»Ein St. Christophorus, Sturmführer«, erklärte Schulte eifrig. »Eine Medaille
für Glück.«
Weber grinste. Schulte hatte nicht gemerkt, daß er einen Witz gemacht hatte.
»Schön«, sagte Weber und legte die Medaille zurück. »Wo sind die vier von
oben?«
Die vier Leute traten vor. Die Tür öffnete sich wieder, und der SS-Scharführer
Günther Steinbrenner kam mit den beiden, die draußen geblieben waren, herein.
»Stellt euch zu den vieren«, sagte Weber. »Die anderen 'raus! Nach oben!«
Die Häftlinge vorn Krematoriumskommando verschwanden rasch. Berger folgte
ihnen. Weber betrachtete die sechs Zurückgebliebenen.
»Nicht dahin«, sagte er. »Stellt euch dorthin, unter die Haken.«
An der Querwand des Raumes, dem Schacht gegenüber, waren vier starke Haken
angebracht. Sie waren etwa einen halben Meter höher als die Köpfe der
Häftlinge, die darunter standen. In der Ecke rechts davon stand ein
dreibeiniger Schemel; daneben, in einer Kiste, lagen Stricke, die zu kurzen
Schlingen geknüpft waren, an deren Enden sich Haken befanden.
Weber gab mit
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