E.M. Remarque
seinem linken Stiefel dem Schemel einen Stoß, so daß er vor den
ersten Häftling rutschte, »'rauf da!« Der Mann zitterte und stellte sich auf
den Schemel.
Weber blickte auf die Kiste mit den kurzen Stricken. »So, Günther«, sagte er
dann zu Steinbrenner. »Der Zauber kann losgehen. Zeig mal, was du kannst.«
Berger tat so, als ob er hülfe, zwei Bahren mit Leichen zu beladen. Er
wurde sonst für diese Arbeit nie gebraucht; er war viel zu schwach dazu. Aber
der Vorarbeiter hatte, als die fortgejagten Häftlinge heraufkamen, alle angeschrieen,
sich nützlich zu machen; da war das einfachste, so zu tun, als folgte man dem
Befehl.
Eine der Leichen auf den Bahren war die Frau mit dem losen Haar; die andere ein
Mann, der aussah, als sei er aus schmutzigem Wachs. Berger hob die Schultern der
Frau und schob ihr Haar darunter, damit es nicht durch den Glutwind beim
Einschieben aufflammen, zurückfliegen und ihm und den anderen die Hände
verbrennen würde.
Es war sonderbar, daß es nicht abgeschnitten war; früher geschah das
regelmäßig, und das Haar wurde gesammelt.
Wahrscheinlich lohnte es nicht mehr; es waren nur noch wenige Frauen im Lager.
»Fertig«, sagte er zu den anderen.
Sie öffneten die Ofentüren. Die Glut strömte heraus. Mit einem Ruck schoben sie
die flachen Eisenbahren in das Feuer.
»Türen zu!« rief jemand.
»Türen zu!«
Zwei Häftlinge warfen die schweren Türen zu, aber eine flog wieder auf, Berger
sah noch, wie die Frau sich aufbäumte, als erwachte sie. Das brennende Haar
umflammte einen Augenblick ihren Kopf wie ein wilder weißgelber Heiligenschein,
dann schlug die Tür, an deren Kante ein schmales Stück Knochen eingeklemmt
gewesen war, zum zweiten Male und ganz zu.
»Was war das?« fragte einer der Häftlinge erschreckt. Er hatte bisher immer nur
Leichen ausgekleidet. »Lebte die noch?«
»Nein. Das war die Hitze«, erwiderte Berger krächzend. Der heiße Wind hatte
seinen Hals ausgetrocknet. Selbst die Augen schienen verbrannt zu sein.
»Sie bewegen sich immer.«
»Sie tanzen manchmal Walzer«, sagte ein kräftiger Mann, der zum Kommando
gehörte und vorbeikam. »Was macht ihr eigentlich hier oben, ihr
Kellergespenster?«
»Wir sind 'raufgeschickt worden.«
Der Mann lachte. »Wozu? Um auch in den Ofen zu kommen?«
»Unten sind neue Leute«, sagte Berger.
Der Mann hörte auf zu lachen. »Was? Neue? Für was?«
»Das weiß ich nicht. Sechs neue.«
Der Mann starrte Berger an. Seine Augen glänzten sehr weiß in dem schwarzen
Gesicht. »Das kann nicht sein! Wir sind erst zwei Monate hier. Sie können uns
noch nicht ablösen. Das dürfen sie nicht! Ist es bestimmt wahr?«
»Ja. Sie haben es selbst gesagt.«
»Krieg das 'raus! Kannst du es nicht genau 'rauskriegen?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Berger. »Hast du ein Stück Brot? Oder was
anderes zu essen? Ich gebe dir Bescheid.«
Der Mann holte ein Stück Brot aus der Tasche und brach es in zwei Teile. Das
kleinere Stück gab er Berger. »Hier. Aber finde es 'raus. Wir müssen das
wissen!«
»Ja.« Berger trat zurück. Jemand klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Es
war der grüne Kapo, der Mosse, Brede und die vier anderen zum Krematorium
geführt hatte. »Bist du der Zahnklempner?«
»Ja.«
»Da ist noch ein Zahn 'rauszuziehen, unten. Du sollst 'runterkommen.«
Der Kapo war sehr blaß. Er schwitzte und lehnte sich gegen die Wand. Berger
blickte auf den Mann, der ihm das Brot gegeben hatte, und kniff ein Auge zu.
Der Mann folgte ihm zum Ausgang. »Es ist schon aufgeklärt«, sagte Berger. »Es
war keine Ablösung. Sie sind tot. Ich muß 'runter.«
»Sicher?«
»Ja. Ich müßte sonst nicht 'runter.«
»Gott sei Dank.« Der Mann atmete auf. »Gib mir das Brot zurück«, sagte er dann.
»Nein.« Berger steckte die Hand in die Tasche und hielt das Stück fest.
»Schafskopf! Ich will
Weitere Kostenlose Bücher