E.M. Remarque
nichts. Ich kann ihm nachgehen.«
»Ja«, sagte Berger und sah Dreyer weiter an. »Scharführer Schulte hat die
Brille nicht beachtet. Oder er hat sie für wertlos gehalten. Vielleicht ist sie
auch wertlos. Ich kann mich täuschen; vielleicht ist es wirklich Nickel.«
Dreyer blickte auf. »Man kann sie weggeworfen haben«, sagte Berger. »Zu dem
nutzlosen Zeug dort. Eine zerbrochene Nickelbrille.«
Dreyer legte das Gestell auf den Tisch. »Mach hier erst mal fertig.«
»Ich kann das nicht allein machen. Die Leute sind zu schwer.«
»Dann hole dir drei Mann von oben dazu.«
Berger ging und kam mit drei Sträflingen zurück. Sie machten Mosse los. Die
aufgestaute Luft entwich rasselnd aus den Lungen, als die Schlinge um den Hals
sich löste. Die Haken an der Wand waren gerade hoch genug, daß die Gehängten
mit den Füßen den Boden nicht mehr erreichen konnten. Das Sterben dauerte so
bedeutend länger. Bei einem normalen Galgen brach gewöhnlich der Nacken durch
den Fall. Das tausendjährige Reich hatte das geändert. Die Galgen wurden auf
langsames Ersticken eingerichtet. Man wollte nicht nur töten, man wollte
langsam und sehr schmerzhaft töten. Eine der ersten Kulturleistungen der neuen
Regierung war gewesen, die Guillotine abzuschaffen und statt ihrer das Handbeil
wieder einzuführen.
Mosse lag jetzt nackt auf dem Boden. Seine Fingernägel waren abgebrochen.
Weißer Kalkstaub klebte darunter. Er hatte sie in der Atemnot in die Wand
gekrallt. Man konnte das auch an der Wand sehen. Hunderte von Erhängten hatten
an dieser Stelle Löcher hineingekratzt. Ebenso da, wo die Füße hingen.
Berger legte Mosses Kleider und Schuhe auf die entsprechenden Haufen. Er
blickte auf Dreyers Tisch. Die Brille lag nicht mehr da. Sie lag auch nicht auf
dem Häufchen von Papier, schmutzigen Briefen und wertlosen Fetzen, die aus den
Taschen der Toten herausgeholt worden waren.
Dreyer arbeitete am Tisch herum. Er blickte nicht auf.
»Was ist das?« fragte Ruth Holland.
Bucher lauschte. »Ein Vogel, der singt. Es muß eine Drossel sein.«
»Eine Drossel?«
»Ja. So früh im Jahr singt kein anderer Vogel. Es ist eine Drossel. Ich
erinnere mich von früher.«
Sie hockten zu beiden Seiten des doppelten Stacheldrahtes, der die
Frauenbaracken vom Kleinen Lager trennte. Es war nicht auffallend; das Kleine
Lager war jetzt so voll, daß überall Leute herumlagen und saßen. Außerdem
hatten die Posten die Wachtürme verlassen, weil ihre Zeit um war. Sie hatten
nicht auf die Ablösung gewartet.
Das kam jetzt im Kleinen Lager ab und zu vor. Es war verboten, aber die
Disziplin war längst nicht mehr so wie früher.
Die Sonne stand tief. Ihr Widerschein hing rot unten in den Fenstern der Stadt.
Eine ganze Straße, die nicht zerstört war, leuchtete, als brenne es in den
Häusern. Der Fluß spiegelte den unruhigen Himmel. »Wo singt sie?«
»Drüben. Dort, wo die Bäume stehen.«
Ruth Holland starrte durch den Stacheldraht zu dem hinüber, was drüben war: einer
Wiese, Äckern, ein paar Bäumen, einem Bauernhaus mit einem Strohdach und,
ferner, auf einem Hügel, einem weißen, niedrigen Hause mit einem Garten.
Bucher sah sie an. Die Sonne machte ihr ausgemergeltes Gesicht sanfter. Er
holte eine Brotrinde aus der Tasche. »Hier, Ruth – Berger hat mir das für dich
gegeben. Er hat es heute bekommen. Ein Extrastück für uns.« Er warf die Rinde
geschickt durch den Stacheldraht. Ihr Gesicht zuckte. Die Rinde lag neben ihr.
Sie antwortete eine Zeitlang nicht. »Es ist deins«, sagte sie schließlich mit
Anstrengung.
»Nein. Ich habe schon ein Stück gehabt.«
Sie schluckte. »Du sagst das nur ...«
»Nein, bestimmt nicht ...« Er sah, wie ihre Finger sich rasch über der Rinde
schlossen.
»Iß es langsam«, sagte er. »Dann gibt es
Weitere Kostenlose Bücher