E.M. Remarque
– wenn man glaubt, man sei
ganz sicher, ist man immer lächerlich und kurz vor dem Absturz –, aber
wenn man weiß, daß man verloren ist, überschüttet es einen mit Geschenken. Man
braucht nichts dazu zu tun – es läuft einem nach wie ein Pudel.«
Clerfayt setzte
sich neben sie. »Woher weißt du das alles?«
»Ich rede nur so
daher. Es sind Halbwahrheiten – wie alles.«
»Die Liebe auch?«
»Was hat Liebe mit
Wahrheit zu tun?«
»Nichts. Sie ist
das Gegenteil davon.«
»Nein«, sagte
Lillian und stand auf. »Das Gegenteil von Liebe ist Tod – und Liebe ist
die bittere Verzauberung, die ihn uns für kurze Zeit vergessen macht. Deshalb
weiß jeder, der etwas vom Tode weiß, auch etwas von der Liebe.« Sie streifte
ihr Kleid über. »Auch das ist eine Halbwahrheit. Wer weiß schon etwas vom
Tode?«
»Niemand –
nur, daß er das Gegenteil des Lebens ist – nicht das der Liebe, und auch
das ist zweifelhaft.«
Lillian lachte.
Clerfayt war wieder so wie früher.
»Weiß du, was ich
möchte?« fragte sie. »Zehn Leben auf einmal leben.«
Er strich über die
schmalen Achselbänder ihres Kleides.
»Wozu? Es würde
doch immer nur eines sein, Lillian – so wie ein Schachspieler, der gegen
zehn verschiedene Partner spielt, eigentlich immer nur ein einziges Spiel
spielt – sein eigenes.«
»Das habe ich auch
herausgefunden.«
»In Venedig?«
»Ja, aber nicht so
wie du denkst.«
Sie standen am
Fenster. Über der Conciergerie hing ein blasses Abendrot. »Ich möchte mein
Leben durcheinander werfen«, sagte Lillian. »Ich möchte jetzt einen Tag oder
eine Stunde leben aus meinem fünfzigsten Jahr – dann eine aus meinem
dreißigsten, dann eine aus meinem achtzigsten – alle in einem Tag, so wie
ich grade Lust habe – nicht eine nach der anderen an der Kette der Zeit.«
Clerfayt lachte.
»Für mich veränderst du dich schnell genug, so wie du bist. Wo wollen wir
essen?«
Sie gingen die
Treppe hinunter. Er versteht nicht, was ich meine, dachte Lillian. Er hält mich
für kapriziös; aber er spürt nicht, daß ich nur das Jenseits beschwören möchte,
mir ein paar von den Tagen herauszugeben, die ich nie leben werde.
Immerhin – ich werde dafür auch nie eine achtzigjährige, zänkische Greisin
werden oder die alternde Enttäuschung eines Mannes, die er nicht wieder sehen
möchte und vor der er erschrickt, wenn er ihr nach Jahren begegnet – ich
werde jung im Gedächtnis meines Geliebten bleiben und dadurch stärker sein als
alle Frauen nach mir, die länger leben und älter werden als ich.
»Worüber lachst
du?« fragte Clerfayt auf der Treppe.
»Über mich?«
»Über mich«, sagte
Lillian. »Aber frag mich nicht, warum – du wirst es schon zur Zeit
herausfinden.«
Er
brachte
sie zwei Stunden später zurück. »Genug für heute«, sagte er lächelnd. »Du
brauchst Schlaf.«
Sie sah ihn
erstaunt an. »Schlaf?«
»Ruhe. Du hast mir
erzählt, daß du krank warst.«
Sie suchte in
seinem Gesicht nach einem verborgenen Scherz. »Meinst du das wirklich?« fragte
sie dann. »Sag mir nicht noch, daß ich müde aussehe.«
Der Nachtportier
erschien mit wissendem Grinsen.
»Salami heute
abend? Kaviar? Die Patronne hat den Kaviar draußen gelassen.«
»Ein Schlafmittel«,
erklärte Lillian. »Gute Nacht, Clerfayt.«
Er hielt sie fest.
»Versteh mich doch, Lillian! Ich will nicht, daß du dir zuviel zumutest und
morgen einen Rückfall hast.«
»Du warst nicht so
vorsichtig im Sanatorium.«
»Damals glaubte
ich, ich würde in ein paar Tagen abfahren und dich nie wieder sehen.«
»Und jetzt?«
»Jetzt opfere ich
ein paar Stunden, weil ich dich so lange behalten will, wie ich kann.«
»Praktisch!« sagte
Lillian böse. »Gute Nacht, Clerfayt.«
Er sah sie scharf
an. »Bringen Sie eine Flasche Vouvray nach oben«, sagte er dann zu dem
Nachtportier.
»Sehr wohl,
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