E.M. Remarque
unanständige Photographien zu kaufen, zwei, beschützt zu
werden, drei zu einem Ausflug im Auto. Außerdem wurden ihr billige Juwelen
offeriert, junge Neger, junge Terrier und einige lesbische Damen. Sie verlor
ihre Gelassenheit nicht, sondern gab dem Kellner ein Trinkgeld im voraus. Er
sah es an und sorgte dafür, daß der stärkste Betrieb aufhörte. Sie bekam so
Gelegenheit, ihren Pernod zu trinken und sich umzusehen.
Ein bleicher,
bärtiger Mann an einem Nachbartisch begann sie zu zeichnen; ein
Teppichverkäufer versuchte, ihr einen grasgrünen Gebetsteppich zu verkaufen,
wurde aber vom Kellner verjagt; als letzter näherte sich nach einer Weile ein
junger Mann, der sich als mitteloser Poet vorstellte. Lillian sah, daß sie
wenig Ruhe haben würde, wenn sie allein bliebe. Sie lud deshalb den Poeten zu
einem Glas Wein ein. Er bat, die Einladung in ein belegtes Brot zu ändern. Sie
bestellte ihm ein Roastbeef.
Der Poet hieß
Gérard. Er las ihr nach dem Essen zwei Gedichte vor; zwei andere rezitierte er
aus dem Kopf. Es waren Elegien über Tod, Sterben, Vergänglichkeit und die
Sinnlosigkeit des Lebens. Lillian wurde heiter. Der Poet war dünn, aber ein
fabelhafter Esser. Sie fragte ihn, ob er noch ein Roastbeef vertilgen könne.
Gérard erklärte, er könne mit Leichtigkeit und sie verstände etwas von der
Dichtkunst; ob sie nicht auch finde, daß das Dasein trostlos sei? Wozu lebe
man? Er aß zwei weitere Roastbeefs, und seine Verse wurden noch schwermütiger.
Er begann das Problem des Selbstmordes zu diskutieren. Er selbst wäre dazu
bereit – morgen natürlich, nicht heute, nach einem so reichlichen Essen.
Lillian wurde noch heiterer; Gérard war zwar mager, aber er sah gesund genug
aus, um noch fünfzig Jahre zu leben.
Clerfayt hockte eine
Zeitlang in der Ritz-Bar herum. Dann beschloß er Lillian anzurufen. Der
Nachtportier meldete sich. »Madame ist nicht im Hotel«, erklärte er, als er
Clerfayt erkannte.
»Wo ist sie?«
»Sie ist
fortgegangen. Vor einer halben Stunde.«
Clerfayt
kalkulierte; sie konnte in so kurzer Zeit nicht gepackt haben. »Hat sie Koffer
mitgenommen?« fragte er zur Vorsicht.
»Nein, mein Herr.
Sie hat einen Regenmantel angehabt.«
»Gut, danke.«
Einen Regenmantel,
dachte Clerfayt. Sie bringt es fertig, ohne Gepäck zum Bahnhof zu gehen und
abzufahren – zurück zu ihrem Boris Wolkow, der so viel besser ist als ich.
Er lief zum Wagen.
Ich hätte bei ihr bleiben sollen, dachte er. Was ist nur mit mir los? Wie
ungeschickt man wird, wenn man wirklich liebt! Wie der Schellack der
Überlegenheit von einem abfällt! Wie allein man ist, und wie alle glatte
Erfahrung verdampft zu Nebel, der einem nur den Blick unsicher macht! Ich darf
sie nicht verlieren!
Er ließ sich vom
Nachtportier noch einmal beschreiben, in welcher Richtung sie gegangen sei.
»Nicht zur Seine, mein Herr«, sagte der Bursche beruhigend. »Nach rechts.
Vielleicht wollte sie noch etwas spazieren gehen und kommt bald zurück.«
Clerfayt fuhr
langsam den Boulevard St.-Michel entlang. Lillian hörte Giuseppe und sah ihn
gleich darauf.
»Und der Tod?«
fragte sie Gérard, der eine Käseplatte vor sich hatte. »Wenn nun der Tod noch
trostloser ist als das Leben?«
»Wer sagt uns«,
fragte Gérard, schwermütig kauend zurück, »ob das Leben nicht eine Strafe ist,
die wir erdulden müssen für ein Verbrechen, das wir in einer anderen Welt
begangen haben? Vielleicht ist dies hier die Hölle und nicht das, was die
Kirche uns nach dem Tode prophezeit.«
»Sie prophezeit
auch den Himmel.«
»Vielleicht sind
wir dann alle gefallene Engel, die zu einer Anzahl von Jahren Bagno auf der
Erde verurteilt worden sind.«
»Wir können die
Straße abkürzen, wenn wir
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