E.M. Remarque
Autorität. »Die schnellen Wagen
starten erst jetzt.«
»Wieviel Wagen sind
im Rennen?« fragte Peystre.
»Fast fünfhundert.«
»Guter Gott!« sagte
jemand. »Und für wie lange?«
»Für über
sechzehnhundert Kilometer, mein Herr. Bei gutem Durchschnitt fünfzehn bis
sechzehn Stunden. Vielleicht auch weniger. Aber es regnet in Italien. Über
Brescia tobt ein Gewitter.«
Die Übertragung war
zu Ende. Der Oberkellner trug seinen Apparat zurück ins Restaurant. Lillian
lehnte sich zurück. Fast sichtbar schien ein Bild noch einen Augenblick im
stillen, goldenen Nachmittagslicht der Terrasse zu hängen, zwischen dem leisen
Klirren von Eisstücken in Gläsern und dem Klappern der Porzellanteller, die
übereinander gehäuft, anzeigten, wieviel man getrunken hatte – ein Bild
ohne Farbe, durchsichtig wie im Wasser manche Krustazeen, so daß man dahinter
die Stühle und Tische der Terrasse des Fouquet noch erkennen konnte –, das
Bild eines grauen Marktplatzes, voll von abstraktem Lärm, der durch viele Echos
seinen individuellen Ton verloren hatte, und die Gespenster der Wagen, einer
hinter dem andern, mit zwei winzigen Funken Leben in jedem, die nichts weiter
wollten als sich selbst zu riskieren. »Es regnet in Brescia«, sagte sie. »Wo
liegt Brescia eigentlich?«
»Zwischen Mailand
und Verona«, erwiderte Peystre.
»Wollen Sie heute
abend mit mir essen?«
Die Girlanden hingen
in Fetzen herunter, zerschlagen vom Regen. Die Flaggen klatschten nass gegen
die Fahnenstangen. Das Gewitter tobte, als würde nicht nur eine Konkurrenz auf
dem Erdboden ausgefahren, sondern eine zweite mit unsichtbaren Wagen in den
Wolken. Der künstliche und der natürliche Donner wechselten miteinander ab; dem
Aufbrüllen eines Wagens antwortete der Blitz und das Gepolter von oben. »Noch
fünf Minuten«, sagte Torriani.
Clerfayt hockte
hinter dem Steuer. Er war nicht sehr gespannt. Er wußte, daß er keine Chancen
hatte; aber bei einem Rennen gab es immer Überraschungen, und bei einem langen
Rennen gab es viele Zufälle.
Er dachte an
Lillian und die Targa Florio. Damals hatte er sie vergessen gehabt und sie
gehasst, weil er während des Rennens plötzlich wieder an sie gedacht und sie
ihn gestört hatte. Das Rennen war wichtiger gewesen als sie. Jetzt war es
anders. Er war ihrer nicht mehr sicher und dachte an sie, aber er gab sich
keine Rechenschaft darüber, daß das nur an ihm lag. Weiß der Teufel, ob sie
noch in Paris ist, dachte er. Er hatte am Morgen noch mit ihr telefoniert; aber
in diesem Lärm schien der Morgen endlos weit. »Hast du Lillian telegrafiert?«
»Ja«, erwiderte
Torriani. »Noch zwei Minuten.«
Clerfayt nickte.
Der Wagen rollte langsam vom Marktplatz der Viale Venezia zu und stoppte.
Niemand stand mehr vor ihnen. Der Mann mit der Stoppuhr war von jetzt an für
mehr als einen halben Tag und eine halbe Nacht das Wichtigste auf der Welt für
sie. Er sollte es sein, dachte Clerfayt; aber er ist es nicht mehr. Ich denke
zuviel an Lillian. Ich sollte Torriani fahren lassen, aber jetzt ist es zu
spät. »Zwanzig Sekunden«, sagte Torriani.
»Gott sei Dank!
Los, zum Teufel!«
Der Starter winkte,
und der Wagen schoß davon. Schreie flogen ihm nach. »Clerfayt«, rief der
Ansager, »mit Torriani als Mechaniker ist gestartet.«
Lillian kam ins Hotel
zurück. Sie fühlte, daß sie Fieber hatte, aber sie beschloß, es zu ignorieren.
Sie hatte es oft, manchmal nur einen Grad, manchmal mehr, und sie wußte, was es
bedeutete. Sie blickte in den Spiegel. Man sieht wenigstens abends dann nicht
so erloschen aus, dachte sie und lächelte sich zu über den Trick, den sie
wieder gebrauchte: das Fieber aus einem Feind zu einem abendlichen Freund zu
machen, der den Augen Glanz
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