Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Himmel kennt keine Guenstlinge
Vom Netzwerk:
und dem Ge­sicht die sanf­te Er­re­gung der hö­he­ren
Tem­pe­ra­tur gab.
    Als sie vom Spie­gel
zu­rück­trat, sah sie die bei­den Te­le­gram­me auf dem Tisch. Cler­fa­yt, dach­te sie
mit ei­nem Herz­schlag von Pa­nik. Aber was konn­te schon so schnell pas­siert sein?
Sie war­te­te ei­ne Wei­le und starr­te die klei­nen, ge­fal­te­ten und ver­kleb­ten
Pa­pie­re an. Vor­sich­tig nahm sie dann das ers­te hoch und öff­ne­te es. Es war von
Cler­fa­yt. »Wir star­ten in fünf­zehn Mi­nu­ten. Sint­flut. Flie­ge nicht fort,
Fla­min­go.« Sie leg­te das Pa­pier ne­ben sich. Nach ei­ner Wei­le öff­ne­te sie das
zwei­te. Sie hat­te noch mehr Angst als vor­her; es konn­te von der Renn­lei­tung
sein, über einen Un­fall, aber es war eben­falls von Cler­fa­yt. Warum tut er das?
dach­te sie. Weiß er nicht, daß je­des Te­le­gramm in sol­cher Zeit Angst macht?
    Sie öff­ne­te ih­ren
Schrank, um ein Kleid für den Abend her­aus­zu­su­chen. Es klopf­te. Der Haus­knecht
stand drau­ßen. »Hier ist das Ra­dio, Ma­de­moi­sel­le. Sie be­kom­men Rom und Mai­land
leicht da­mit.«
    Er stöp­sel­te den
Draht ein. »Hier ist noch ein Te­le­gramm.«
    Wie vie­le wird er
denn noch schi­cken? dach­te sie. Am bes­ten wä­re es, wenn er einen De­tek­tiv in
das Zim­mer ne­ben­an set­zen wür­de, um mich zu kon­trol­lie­ren. Sie such­te ein Kleid
aus. Es war das, das sie in Ve­ne­dig ge­tra­gen hat­te. Er war ge­rei­nigt wor­den und
hat­te kei­ne Fle­cken mehr. Sie glaub­te seit­dem, es brin­ge Glück und be­trach­te­te
es als Mas­kot­te. Sie hielt es fest in der Hand, wäh­rend sie das letz­te
Te­le­gramm öff­ne­te. Es war nicht von Cler­fa­yt; aber es ent­hielt Glück­wün­sche für
Cler­fa­yt. Wie kam das hier­her zu ihr? Sie sah noch ein­mal auf die Un­ter­schrift
in der tie­fen Däm­me­rung. Holl­mann. Sie such­te nach dem Ort, von dem es auf­ge­ge­ben
war. Es kam vom Sa­na­to­ri­um Bel­la Vis­ta.
    Sie leg­te das Blatt
sehr be­hut­sam auf den Tisch. Heu­te ist der Tag der Geis­ter, dach­te sie und
setz­te sich auf ihr Bett – Cler­fa­yt, der dort im Ra­dio­kas­ten sitzt und mit
sei­nem dröh­nen­den Mo­tor dar­auf war­tet, das Zim­mer zu er­fül­len – und jetzt
die­ses Te­le­gramm, das schwei­gen­de Ge­sich­ter durch das Fens­ter star­ren läßt. Es
war die ers­te Nach­richt, die sie je vom Sa­na­to­ri­um er­hal­ten hat­te. Sie hat­te
auch selbst nie ge­schrie­ben. Sie hat­te es nicht ge­wollt. Sie hat­te es für im­mer
hin­ter sich las­sen wol­len. Sie war so si­cher ge­we­sen, nie zu­rück­zu­keh­ren, daß
der Ab­schied wie Tod ge­we­sen war.
    Sie saß lang still.
Dann dreh­te sie die Knöp­fe des Ra­di­os; es war die Zeit der Nach­rich­ten. Rom
stürz­te her­ein mit ei­nem Schwall von Lärm, mit Na­men, be­kann­ten, un­be­kann­ten
Or­ten, Städ­ten, Man­tua, Ra­ven­na, Bo­lo­gna, Aqui­la, mit Stun­den, Mi­nu­ten, mit der
auf­ge­reg­ten Stim­me des An­sa­gers, der ge­won­ne­ne Mi­nu­ten be­han­del­te, als wä­ren
sie der hei­li­ge Gral, der De­fek­te an Was­ser­pum­pen, fest­ge­fres­se­ne Kol­ben,
zer­bro­che­ne Ben­zin­lei­tun­gen be­schrieb, als be­schrie­be er Welt­un­glücke, und der
wie einen Sturm das Ren­nen nach der Zeit her­e­in­jag­te in das halb­dunkle Zim­mer,
das Ra­sen um Se­kun­den, nicht um Se­kun­den Le­ben, son­dern um auf ei­ner nas­sen Stra­ße
mit zehn­tau­send Kur­ven und ei­ner schrei­en­den Men­ge ein paar hun­dert Me­ter
frü­her an ei­nem Ort zu sein, den man so­fort wie­der ver­ließ, ein Ra­sen, als wä­re
die Atom­bom­be hin­ter ei­nem her. Warum ver­ste­he ich es nicht? dach­te Lil­li­an.
Warum spü­re ich nichts von dem Rausch der Mil­lio­nen Men­schen, die an die­sem
Abend und in die­ser Nacht die Chaus­seen Ita­li­ens säu­men? Soll­te ich es nicht
stär­ker füh­len? Ist nicht mein ei­ge­nes Le­ben ähn­lich? Ein Ren­nen, um so viel an
sich zu rei­ßen, wie man kann, ein Ja­gen nach dem Phan­tom, das vor ei­nem
her­schießt wie der künst­li­che Ha­se vor der Meu­te beim Wind­hund­ren­nen?
    »Flo­renz«, mel­de­te
die Stim­me am Ra­dio tri­um­phie­rend und be­gann Zei­ten auf­zu­zäh­len, Na­men wie­der
und Au­to­mar­ken,

Weitere Kostenlose Bücher