E.M. Remarque
und dem Gesicht die sanfte Erregung der höheren
Temperatur gab.
Als sie vom Spiegel
zurücktrat, sah sie die beiden Telegramme auf dem Tisch. Clerfayt, dachte sie
mit einem Herzschlag von Panik. Aber was konnte schon so schnell passiert sein?
Sie wartete eine Weile und starrte die kleinen, gefalteten und verklebten
Papiere an. Vorsichtig nahm sie dann das erste hoch und öffnete es. Es war von
Clerfayt. »Wir starten in fünfzehn Minuten. Sintflut. Fliege nicht fort,
Flamingo.« Sie legte das Papier neben sich. Nach einer Weile öffnete sie das
zweite. Sie hatte noch mehr Angst als vorher; es konnte von der Rennleitung
sein, über einen Unfall, aber es war ebenfalls von Clerfayt. Warum tut er das?
dachte sie. Weiß er nicht, daß jedes Telegramm in solcher Zeit Angst macht?
Sie öffnete ihren
Schrank, um ein Kleid für den Abend herauszusuchen. Es klopfte. Der Hausknecht
stand draußen. »Hier ist das Radio, Mademoiselle. Sie bekommen Rom und Mailand
leicht damit.«
Er stöpselte den
Draht ein. »Hier ist noch ein Telegramm.«
Wie viele wird er
denn noch schicken? dachte sie. Am besten wäre es, wenn er einen Detektiv in
das Zimmer nebenan setzen würde, um mich zu kontrollieren. Sie suchte ein Kleid
aus. Es war das, das sie in Venedig getragen hatte. Er war gereinigt worden und
hatte keine Flecken mehr. Sie glaubte seitdem, es bringe Glück und betrachtete
es als Maskotte. Sie hielt es fest in der Hand, während sie das letzte
Telegramm öffnete. Es war nicht von Clerfayt; aber es enthielt Glückwünsche für
Clerfayt. Wie kam das hierher zu ihr? Sie sah noch einmal auf die Unterschrift
in der tiefen Dämmerung. Hollmann. Sie suchte nach dem Ort, von dem es aufgegeben
war. Es kam vom Sanatorium Bella Vista.
Sie legte das Blatt
sehr behutsam auf den Tisch. Heute ist der Tag der Geister, dachte sie und
setzte sich auf ihr Bett – Clerfayt, der dort im Radiokasten sitzt und mit
seinem dröhnenden Motor darauf wartet, das Zimmer zu erfüllen – und jetzt
dieses Telegramm, das schweigende Gesichter durch das Fenster starren läßt. Es
war die erste Nachricht, die sie je vom Sanatorium erhalten hatte. Sie hatte
auch selbst nie geschrieben. Sie hatte es nicht gewollt. Sie hatte es für immer
hinter sich lassen wollen. Sie war so sicher gewesen, nie zurückzukehren, daß
der Abschied wie Tod gewesen war.
Sie saß lang still.
Dann drehte sie die Knöpfe des Radios; es war die Zeit der Nachrichten. Rom
stürzte herein mit einem Schwall von Lärm, mit Namen, bekannten, unbekannten
Orten, Städten, Mantua, Ravenna, Bologna, Aquila, mit Stunden, Minuten, mit der
aufgeregten Stimme des Ansagers, der gewonnene Minuten behandelte, als wären
sie der heilige Gral, der Defekte an Wasserpumpen, festgefressene Kolben,
zerbrochene Benzinleitungen beschrieb, als beschriebe er Weltunglücke, und der
wie einen Sturm das Rennen nach der Zeit hereinjagte in das halbdunkle Zimmer,
das Rasen um Sekunden, nicht um Sekunden Leben, sondern um auf einer nassen Straße
mit zehntausend Kurven und einer schreienden Menge ein paar hundert Meter
früher an einem Ort zu sein, den man sofort wieder verließ, ein Rasen, als wäre
die Atombombe hinter einem her. Warum verstehe ich es nicht? dachte Lillian.
Warum spüre ich nichts von dem Rausch der Millionen Menschen, die an diesem
Abend und in dieser Nacht die Chausseen Italiens säumen? Sollte ich es nicht
stärker fühlen? Ist nicht mein eigenes Leben ähnlich? Ein Rennen, um so viel an
sich zu reißen, wie man kann, ein Jagen nach dem Phantom, das vor einem
herschießt wie der künstliche Hase vor der Meute beim Windhundrennen?
»Florenz«, meldete
die Stimme am Radio triumphierend und begann Zeiten aufzuzählen, Namen wieder
und Automarken,
Weitere Kostenlose Bücher