E.M. Remarque
schon
einige Male so packen sehen. Es kam jedes Jahr über sie, wie der Drang zum
Wegfliegen bei Zugvögeln im Frühjahr und im Herbst. Die Koffer standen dann ein
paar Tage und manchmal auch ein paar Wochen herum, bis Lillian mutlos wurde und
aufgab.
»Ich gehe, Boris«,
sagte sie. Sie fürchtete sich vor dieser Aussprache. »Dieses Mal gehe ich
wirklich!« Er lehnte an der Tür und betrachtete sie. Kleider und Mäntel lagen
auf dem Bett, und Sweater und Nachthemden hingen an den Fensterriegeln und an
der Tür. Hochhackige Schuhe standen auf dem Toilettentisch und auf den Stühlen,
und Skisachen waren zu einem Haufen neben der Balkontür zusammengeworfen.
»Ich gehe
wirklich«, wiederholte Lillian nervös, weil er es nicht glaubte.
Er nickte. »Du
gehst morgen. Und übermorgen oder in einer Woche packen wir wieder aus. Wozu
quälst du dich umsonst?«
»Boris!« rief sie.
»Lass das! Es nützt nichts mehr! Ich gehe.«
»Morgen?«
»Nein, heute.«
Sie spürte seine
Nachgiebigkeit und seinen Unglauben; es waren die Spinngewebe, die sie wieder
umwickeln und lähmen wollten. »Ich fahre«, sagte sie entschlossen. »Heute. Mit
Clerfayt.«
Sie sah, wie seine Augen
sich veränderten. »Mit Clerfayt?«
»Ja.« Sie sah ihn
an. Sie wollte es rasch hinter sich bringen. »Ich gehe allein. Aber ich fahre
mit Clerfayt, weil er heute fährt und weil ich allein nicht den Mut dazu habe.
Ich fahre aus keinem andern Grund mit ihm. Allein bin ich nicht stark genug
gegen das hier oben ...«
»Gegen mich?«
»Auch gegen
dich – aber nicht so, wie du glaubst.«
Wolkow machte einen
Schritt in das Zimmer hinein. »Du kannst nicht gehen«, sagte er.
»Doch, Boris. Ich
wollte dir schreiben. Sieh das an –« sie zeigte auf einen kleinen
Papierkorb aus Messing neben ihrem Tisch, in dem zerknittertes Briefpapier lag.
»Ich konnte es nicht. Es ist hoffnungslos, es erklären zu wollen ...«
Hoffnungslos,
dachte Wolkow. Was heißt das? Warum ist etwas heute hoffnungslos, was gestern
noch nicht existiert? Er blickte auf die Kleider und Schuhe – vor einer
Sekunde noch waren sie ein Bild reizvoller Unordnung gewesen – jetzt lagen
sie plötzlich im schneidenden Licht des Abschieds und waren Waffen, die sein Herz
bedrohten. Er sah sie nicht mehr als ein charmantes Durcheinander; er sah sie
mit dem Schmerz, den man spürt, wenn man vom Begräbnis eines geliebten Toten
kommt und dann unvermutet etwas von seinen persönlichen Sachen sieht –
einen Hut, Wäsche, ein Paar Schuhe. »Du mußt hier bleiben«, sagte er.
Sie schüttelte den
Kopf. »Ich weiß, daß ich es nicht erklären kann. Deshalb wollte ich weggehen,
ohne dich zu sehen. Ich wollte dir von unten schreiben – aber auch das
hätte ich nicht gekonnt. Mach es mir nicht schwer, Boris ...«
Mach es mir nicht
schwer, dachte er. Immer sagten sie das, diese Bündel aus Anmut, Selbstsucht
und Hilflosigkeit, wenn sie darangingen, einem das Herz zu zerreißen. Mach es
mir nicht schwer! Dachten sie je daran, ob sie es dem anderen schwermachten? Aber
wäre es nicht noch trostloser, wenn sie wirklich daran dächten? Würde das nicht
etwas von dem fatalen Mitleid haben, das Brennnesseln in den Händen hält,
während es achtlos streichelt?
»Du gehst mit
Clerfayt?«
»Ich fahre mit
Clerfayt hinunter«, erwiderte Lillian gequält. »Er nimmt mich mit, wie ein Mann
mit einem Auto einen Fußgänger am Wege mitnimmt. In Paris trennen wir uns. Ich
bleibe da, und er fährt weiter. Mein Onkel lebt in Paris. Er verwaltet das
bißchen Geld, das ich habe. Ich werde dableiben.«
»Bei deinem Onkel?«
»In Paris.«
Lillian wußte, daß
sie nicht die Wahrheit sagte, aber es schien ihr im Augenblick die Wahrheit zu
sein. »Verstehe mich doch, Boris!« bat sie.
Er sah auf die
Koffer. »Wozu willst du verstanden werden? Es ist genug,
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