E.M. Remarque
verminderte
sonderbarerweise auch den Schmerz um Boris, da die Freiheit der Wahl auf einmal
von ihr genommen zu sein schien. Sie fühlte sich wie ein Soldat, der nach
langem Warten einen Marschbefehl erhalten hat. Es war nichts mehr zu tun als
ihm zu folgen. Das Neue hatte bereits Besitz von ihr genommen, so wie beim
Soldaten der Marschbefehl bereits Teil der Uniform und des Kampfes – und
vielleicht auch des Endes war.
»Machen Sie keine
Schwierigkeiten«, polterte der Dalai Lama. »Hier gibt es doch kaum ein anderes
Sanatorium – wo wollen Sie denn schon hin? In eine Pension?«
Er stand da, der
große, gutmütige Gott des Sanatoriums, und wurde ungeduldig, weil diese
widerspenstige Katze ihn bei seinem Wort nahm mit der Entlassung, um ihn zu
zwingen, wie er glaubte, sie zurückzunehmen. »Die paar Regeln sind doch nur in
Ihrem Interesse«, rumpelte es. »Wo kämen wir hin, wenn hier Anarchie herrschte.
Und sonst? Wir sind doch wirklich hier kein Gefängnis. Oder finden Sie?«
Lillian lächelte.
»Nicht mehr«, sagte sie. »Und ich bin kein Patient mehr. Sie können wieder zu
mir sprechen wie zu einer Frau. Nicht mehr wie zu einem Kinde oder einem
Sträfling.«
Sie sah noch, wie
der Dalai Lama erneut rosig anlief. Dann war sie draußen.
Sie packte ihre
Koffer fertig. Heute abend, dachte sie, werde ich die Berge verlassen haben.
Zum ersten Male in Jahren spürte sie eine Erwartung, hinter der eine Erfüllung
stand – nicht mehr die Erwartung einer Fata Morgana, die Jahre weit
entfernt war und immer wieder zurückrückte, sondern die der nächsten Stunden.
Vergangenheit und Zukunft hingen in einer zitternden Balance, und das erste,
was sie fühlte, war nicht Alleinsein, sondern eine gespannte, hohe Einsamkeit.
Sie nahm nichts mit, und sie wußte nicht, wohin sie ging.
Sie fürchtete sich
davor, daß Wolkow noch einmal käme, und sie sehnte sich danach, ihn noch einmal
zu sehen. Sie schloß ihre Koffer, und ihre Augen waren blind vor Tränen. Sie
wartete, bis sie wieder ruhig geworden war. Sie bezahlte ihre Rechnung und
schlug zwei Angriffe des Krokodils ab – den letzten im Namen des Dalai
Lama. Sie verabschiedete sich von Dolores Palmer, Maria Savini und Charles Ney,
die sie anstarrten, wie die Japaner im Kriege ihre Selbstmordflieger angesehen
haben mochten. Sie ging in ihr Zimmer zurück und wartete. Dann hörte sie ein
Kratzen und Bellen vor der Tür. Sie öffnete, und der Schäferhund Wolkows kam
herein. Das Tier liebte sie und war oft allein zu ihr gekommen. Sie glaubte,
Boris habe es geschickt und werde selbst auch noch kommen. Aber er kam nicht.
Dafür erschien die Zimmerschwester und erzählte ihr, die Angehörigen Manuelas
würden die Tote in einem Zinksarg nach Bogotá schicken.
»Wann?« fragte
Lillian, um etwas zu fragen.
»Heute noch. Sie
wollen so rasch wie möglich reisen. Draußen steht schon der Schlitten. Sonst
wartet man doch immer bis nachts; aber der Sarg soll noch ein Schiff erreichen.
Die Angehörigen reisen mit dem Flugzeug.«
»Ich muß jetzt
gehen«, murmelte Lillian. Sie hatte den Wagen Clerfayts gehört. »Leben Sie
wohl.«
Sie schloß die Tür
hinter sich und ging den weißen Korridor entlang wie ein Dieb auf der Flucht.
Sie hoffte, unbemerkt durch die Halle zu kommen, aber das Krokodil wartete
neben dem Aufzug.
»Der Professor läßt
Ihnen noch einmal sagen, daß Sie hier bleiben können. Und hier bleiben
sollten.«
»Danke«, sagte
Lillian und ging weiter.
»Seien Sie doch
vernünftig, Miss Dunkerque! Sie kennen Ihre Situation nicht. Sie dürfen jetzt
nicht nach unten. Sie würden das Jahr nicht überleben.«
»Gerade deshalb.«
Lillian ging
weiter. An den Bridgetischen hoben sich ein paar Köpfe; sonst war die Halle
leer. Die Patienten hatten
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