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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Himmel kennt keine Guenstlinge
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so
ver­ach­te­te, die Zeit, ein­mal das Wich­tigs­te von al­lem sein wür­de, wenn es nur
noch Stun­den und Ta­ge wa­ren, und daß sie ver­zwei­felt sein wür­de, weil sie es
weg­ge­wor­fen hat­te, wenn es ihr jetzt auch nicht so vor­kam – aber er wuß­te
auch, daß je­des Wort, wenn er es zu sa­gen ver­such­te, sich in einen Ge­mein­platz
ver­wan­deln wür­de, der selbst durch die Tat­sa­che der Wahr­heit nicht er­träg­li­cher
wer­den konn­te. Es war zu spät. Es konn­te sie nicht mehr er­rei­chen. Es war
plötz­lich zu spät, von ei­nem Atem­zug zum an­de­ren. Was hat­te er ver­säumt? Er
wuß­te es nicht. Ges­tern war noch al­les nah und ver­traut ge­we­sen, und jetzt war
ei­ne Glas­wand zwi­schen ih­nen auf­ge­stie­gen, wie in ei­nem Au­to zwi­schen
Füh­rer­sitz und In­nen­raum. Sie sa­hen ein­an­der noch, aber sie ver­stan­den sich
nicht mehr – sie hör­ten ein­an­der, aber sie spra­chen ver­schie­de­ne Spra­chen,
die an­ein­an­der vor­über­weh­ten. Es war nichts mehr zu tun. Die Frem­de, die über
Nacht auf­ge­wach­sen war, füll­te be­reits al­les aus. Sie war in je­dem Blick und in
je­der Ges­te. Es war nichts mehr zu tun. »Adieu, Lil­li­an«, sag­te er.
    »Ver­zeih mir,
Bo­ris.«
    »In der Lie­be ist
nichts zu ver­zei­hen.«
    Sie hat­te kei­ne Zeit
nach­zu­den­ken. Ei­ne Schwes­ter kam und for­der­te sie auf, zum Dalai La­ma zu
kom­men. Der Pro­fes­sor roch nach gu­ter Sei­fe und an­ti­sep­ti­scher Wä­sche. »Ich sah
Sie ges­tern abend in der Ber­ger­hüt­te«, er­klär­te er steif.
    Lil­li­an nick­te.
    »Sie wis­sen, daß
Sie Aus­geh­ver­bot ha­ben?«
    »Ja, das weiß ich.«
    Über das blas­se
Ge­sicht des Dalai La­ma ging ein ro­si­ger Schein. »Es scheint Ih­nen gleich­gül­tig
zu sein, ob Sie es be­ach­ten oder nicht. Ich muß Sie bit­ten, das Sa­na­to­ri­um zu
ver­las­sen. Viel­leicht fin­den Sie an­ders­wo einen Platz, der Ih­ren Wün­schen
bes­ser ent­spricht.«
    Lil­li­an ant­wor­te­te
nicht; die Iro­nie war zu stark.
    »Ich ha­be mit der
Ober­schwes­ter ge­spro­chen«, er­klär­te der Dalai La­ma, der ihr Schwei­gen als
Schreck auf­fass­te. »Sie hat mir ge­sagt, daß es nicht das ers­te Mal war. Sie hat
Sie schon öf­ter ge­warnt. Sie ha­ben es nicht be­ach­tet. So et­was zer­stört die
Mo­ral des Sa­na­to­ri­ums. Wir kön­nen es nicht dul­den, daß ...«
    »Ich se­he das ein«,
un­ter­brach Lil­li­an ihn. »Ich wer­de das Sa­na­to­ri­um heu­te nach­mit­tag ver­las­sen.«
    Der Dalai La­ma
blick­te sie über­rascht an. »So ei­lig ist es nicht«, er­wi­der­te er dann. »Neh­men
Sie sich Zeit, bis Sie einen Platz ge­fun­den ha­ben. Oder ha­ben Sie das schon
ge­tan?«
    »Nein.«
    Der Pro­fes­sor war
et­was aus dem Text ge­bracht. Er hat­te Trä­nen und die Bit­te, es noch ein­mal zu
ver­su­chen, er­war­tet. »Wes­halb ar­bei­ten Sie so ge­gen Ih­re Ge­sund­heit, Fräu­lein
Dun­ker­que?« frag­te er schließ­lich.
    »Als ich al­les tat,
was vor­ge­schrie­ben wur­de, ist es auch nicht bes­ser ge­wor­den.«
    »Aber das ist doch
kein Grund, es nicht mehr zu tun, wenn es ein­mal schlech­ter wird«, rief der
Pro­fes­sor är­ger­lich. »Im Ge­gen­teil. Dann ist man doch be­son­ders vor­sich­tig!«
    Wenn es ein­mal
schlech­ter wird, dach­te Lil­li­an. Es traf sie nicht so wie ges­tern, als die
Schwes­ter es ihr zu­ge­ge­ben hat­te. »Selbst­zer­stö­re­ri­scher Un­sinn!« pol­ter­te der
Dalai La­ma wei­ter, der glaub­te, ein gol­de­nes Herz un­ter ei­ner rau­en Scha­le zu
ha­ben. »Fe­gen Sie die­sen Un­sinn aus Ih­rem hüb­schen Kopf her­aus!«
    Er faß­te sie an die
Schul­ter und schüt­tel­te sie leicht. »Na, nun ge­hen Sie in Ihr Zim­mer, und
be­ach­ten Sie von jetzt an die Vor­schrif­ten ge­nau.«
    Lil­li­an glitt mit
ei­ner Be­we­gung ih­rer Schul­ter un­ter sei­ner Hand weg. »Ich wür­de die
Vor­schrif­ten auch wei­ter ver­let­zen«, sag­te sie ru­hig. »Des­halb hal­te ich es für
bes­ser, das Sa­na­to­ri­um zu ver­las­sen.«
    Das, was der Dalai
La­ma ihr über ih­ren Zu­stand ge­sagt hat­te, hat­te sie nicht nur nicht er­schreckt,
son­dern sie im Ge­gen­teil plötz­lich si­cher und kühl ge­macht. Es

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