E.M. Remarque
Liegekur. Boris war nicht da. Hollmann stand am
Ausgang.
»Wenn Sie absolut
fahren wollen, dann nehmen Sie wenigstens die Eisenbahn«, sagte das Krokodil.
Lillian zeigte der
Oberschwester stumm ihren Pelz und ihre Wollsachen. Das Krokodil machte eine
verächtliche Bewegung. »Das nützt nichts! Wollen Sie mit Gewalt Selbstmord
begehen?«
»Das tun wir
alle – der eine schneller, der andere langsamer. Wir fahren vorsichtig.
Und nicht weit.«
Die Ausgangstür war
jetzt ganz nahe. Die Sonne blendete von draußen herein. Noch ein paar Schritte,
dachte Lillian, und das Spießrutenlaufen ist zu Ende. Noch einen Schritt! »Sie
sind gewarnt worden«, sagte die gleichmäßige, kalte Stimme neben ihr. »Wir
waschen unsere Hände in Unschuld!«
Es war ihr nicht
danach zumute, aber Lillian mußte lächeln. Das Krokodil hatte mit einem letzten
Klischee die Situation gerettet. »Waschen Sie sie in sterilisierter Unschuld«,
sagte Lillian. »Adieu! Danke für alles.«
Sie war draußen.
Der Schnee reflektierte das Licht so stark, daß sie kaum sehen konnte. »Auf
Wiedersehen, Hollmann!«
»Auf Wiedersehn,
Lillian. Ich komme bald nach.«
Sie blickte auf. Er
lachte. Gott sei Dank, dachte sie, endlich kein Schulmeister. Hollmann packte
sie in ihre Wollsachen und ihren Pelz. »Wir werden langsam fahren«, sagte
Clerfayt. »Wenn die Sonne untergeht, machen wir das Verdeck zu. Jetzt schützen
die Seitenteile Sie gegen den Wind.«
»Ja«, erwiderte
sie. »Können wir abfahren?«
»Haben Sie nichts
vergessen?«
»Nein.«
»Wenn doch, dann
kann man es nachschicken lassen.«
Daran hatte sie
nicht gedacht. Es tröstete sie plötzlich. Sie hatte geglaubt, alle Verbindungen
würden abgerissen sein, wenn sie abführe. »Ja, wirklich, man kann es sich
nachschicken lassen«, sagte sie.
Ein kleiner Mann,
der wie eine Kreuzung zwischen einem Kellner und einem Küster aussah, kam rasch
über den Platz. Clerfayt stutzte. »Das ist doch ...«
Der Mann ging zum
Eingang, dicht am Wagen vorbei, und Clerfayt erkannte ihn jetzt. Er trug einen
dunklen Anzug, einen schwarzen Hut und einen Reisekoffer. Es war der
Leichenbegleiter; er war wie verwandelt – nicht mehr zerknittert und
mürrisch, sondern fröhlich und autoritativ. Er war auf dem Wege nach Bogotá.
»Wer?« fragte
Lillian.
»Nichts. Ich
glaubte einen Bekannten gesehen zu haben. Fertig?«
»Ja«, sagte
Lillian. »Fertig.«
Der Wagen fuhr an.
Hollmann winkte. Boris war nicht zu sehen. Der Hund lief noch eine Weile hinter
dem Wagen her, dann blieb er zurück. Lillian blickte sich um. Auf den
Sonnenterrassen, die eben noch leer gewesen waren, stand auf einmal eine Reihe
von Menschen. Die Kranken, die oben auf ihren Liegestühlen gelegen hatten,
hatten sich erhoben. Sie hatten durch den Untergrundtelegraphen des Sanatoriums
längst erfahren, was vorging, und jetzt, als sie den Motor hörten, standen sie
in einer dünnen Reihe da, dunkel gegen den starken, blauen Himmel, und starrten
hinab.
»Wie auf dem
obersten Rang einer Stierkampfarena«, sagte Clerfayt.
»Ja«, erwiderte
Lillian. »Aber was sind wir? Die Stiere oder die Matadore?«
»Immer die Stiere.
Aber wir glauben, wir wären die Matadore.«
7
D er Wagen glitt
langsam durch eine weiße Schlucht, über der wie ein Bach der enzianblaue Himmel
floß. Sie waren über den Paß hinweg, aber der Schnee war noch fast zwei Meter
hoch zu beiden Seiten der Straße aufgeschichtet. Man konnte nicht über ihn
hinaussehen. Nichts war da als die Schneemauern und das blaue Band des Himmels.
Wenn man sich lange genug zurücklehnte, wußte man nicht mehr, was unten oder
oben war, das Blau oder das Weiß.
Dann kam der Geruch
von Harz und Tannen, und ein Dorf schob sich braun und flach heran. Clerfayt
hielt. »Wir können
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