E.M. Remarque
Clerfayt glaubte versuchen zu müssen, Lillian zu
schützen, aber er fand bald heraus, daß das nicht nötig sei. Während die beiden
Parkhelfer mit viel Geschrei Wagen hin- und herschoben und den Verkehr
aufhielten, und er mit Lydias Begleiter über Automobile redete, entwickelte
sich zwischen den beiden Frauen ein harmlos wirkendes Gespräch, in dem Angriff
und Parade von tödlicher Liebenswürdigkeit waren. Lydia Morelli hätte auf ihrer
eigenen Ebene ohne Zweifel gesiegt; sie war älter als Lillian und weitaus
geschickter und bösartiger – aber es schien, als fechte sie gegen Watte.
Lillian war zu ihr von einer so entwaffnenden Naivität und einem so
beleidigendem Respekt, daß alle Vorsicht der Morelli nichts nützte; sie wurde
als Angreiferin demaskiert und war damit schon halb geschlagen. Selbst ihr
Begleiter mußte merken, daß sie die Interessiertere von beiden war. Und die
Ältere.
»Ihr Wagen, mein
Herr«, meldete der Parkwächter Clerfayt.
Clerfayt fuhr den Wagen
durch die Gasse um die nächste Ecke. »Das war eine erstklassige Leistung«,
sagte er zu Lillian. »Sie weiß weder, wer du bist, noch woher du kommst, noch
wo du wohnst.«
»Sie wird es morgen
wissen, wenn sie will«, erwiderte Lillian gleichmütig.
»Von wem? Von mir?«
»Von meinem
Schneider. Sie hat gesehen, woher dieses Kleid kommt.«
»Ist es dir
gleichgültig?«
»Und wie!« sagte
Lillian und atmete tief die Nachtluft ein. »Lass uns über die Place de la
Concorde fahren. Heute ist Sonntag; die Fontänen springen im Licht.«
»Ich glaube, dir
ist alles gleichgültig, wie?« fragte er.
Sie drehte sich ihm
zu und lächelte. »In einem sehr intensiven Sinne, ja.«
»Das dachte ich
mir. Was ist mit dir passiert?«
Ich weiß, daß ich
sterbe, dachte sie, während sie das Laternenlicht über ihr Gesicht gleiten
fühlte. Ich weiß es mehr als du, das ist alles, deshalb empfinde ich das, was
für dich Lärm ist, als Schluchzen und Schrei und Jubel, und was für dich Alltag
ist, als Gnade und Geschenk. »Sieh, die Fontänen!« sagte sie.
Er fuhr sehr
langsam um den Platz. Unter dem silbergrauen Himmel von Paris stiegen die
beglänzten Strahlen auf, sie fingen sich in sich selbst und warfen sich
narzisstisch sich selbst zu, die Brunnen rauschten, der Obelisk stand beglänzt
mit Tausenden von Jahren Beständigkeit wie eine senkrechte, helle Achse
zwischen dem Flüchtigsten, was es gab, Springbrunnen, die sich hochwarfen gegen
den Himmel und starben, während sie einen Augenblick balancierten und die
Krankheit der Schwerkraft vergaßen, um dann, schon wieder verwandelt im Fallen,
das älteste Wiegenlied der Erde zu singen: das Rauschen des Wassers, das monotone
Lied von der ewigen Wiederkehr der Materie und dem ewigen Vergehen der
Individualität.
»Welch ein Platz!«
sagte Lillian.
»Ja«, erwiderte
Clerfayt. »Hier stand die Guillotine. Drüben hat man Marie Antoinette geköpft.
Jetzt springen die Fontänen.«
»Fahr noch zum
Rond-Point«, sagte Lillian. »Da sind die andern.«
Clerfayt fuhr die
Champs Elysées hinunter. Am Rond-Point gesellte sich dem Gesang und dem weißen
Gischt des Wassers noch der Miniatur-Lanzenwald gelber Tulpen hinzu, die wie
preußische Soldaten mit den aufgepflanzten Bajonetten ihrer Blüten
Stillgestanden übten.
»Ist dir das auch
gleichgültig?« fragte Clerfayt.
Lillian mußte sich
einen Augenblick besinnen. Sie holte ihre Augen langsam aus dem Plätschern und
der Nacht zurück. Er quält sich, dachte sie. Wie leicht das ging!
»Es löscht mich
aus«, sagte sie. »Verstehst du das nicht?«
»Nein. Ich will
nicht ausgelöscht werden; ich will mich stärker fühlen.«
»Das meine ich. Es
ist so viel Hilfe, wenn man nicht widerstrebt.«
Er hätte gern
angehalten
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