E.M. Remarque
Wagen. Das Geheul des anderen Wagens war besser als jede Spritze
gewesen.
»Weg!« schrie er.
»Ich komme!«
Der Wagen glitt
rückwärts, der Motor sprang an, als er das Steuer herumriss und den Wagen nach
vorn lenkte. Er kuppelte aus, schaltete, griff wieder ins Steuerrad, kam auf
die Straße, hielt fest, fuhr langsam, dachte nur das eine: Der Wagen muß zum
Depot kommen, es ist nicht mehr weit, bis die gerade Strecke beginnt, von da an
kann ich ihn halten, es sind nicht mehr viele Kurven.
Der nächste Wagen
brüllte heran, hinter ihm. Clerfayt hielt die Straße, so lange er konnte. Er
biss die Zähne zusammen, er wußte, daß er den andern behinderte, er wußte, daß
es verboten war, daß es unanständig war, aber er konnte sich nicht helfen, er
hielt die Mitte der Straße, bis der Wagen hinter ihm rechts in der Kurve überholte.
Der Fahrer, staubweiß hinter der Brille, hob die Hand, als er vorbei war. Er
hatte Clerfayts blutiges Gesicht und den Reifen gesehen. Einen Augenblick
spürte Clerfayt eine Welle von Kameradschaft; dann hörte er den nächsten Wagen
hinter sich, und die Kameradschaft verwandelte sich in Wut, in eine Wut, die
die schlimmste von allen war: ohne Grund und hilflos.
Das kommt davon,
dachte etwas in ihm, ich hätte aufpassen sollen, anstatt zu träumen! Autofahren
ist nur für Dilettanten eine romantische Angelegenheit, es gibt nur den Wagen
und den Fahrer, und alles Dritte dazwischen ist Gefahr, oder es bringt
Gefahr – zur Hölle mit allen Flamingos, zum Teufel mit allen Gefühlen, ich
hätte den Wagen halten können, ich hätte die Kurven weicher schneiden sollen,
ich hätte die Reifen schonen müssen, jetzt ist es zu spät, ich verliere zu viel
Zeit, da ist schon wieder so ein verdammter Kasten, der mich überholt, und da
kommt auch der nächste, die gerade Strecke ist mein Feind, sie schwärmen wie
Hornissen, und ich muß sie vorbeilassen, zum Teufel mit Lillian, was hat sie
hier zu tun, und zum Teufel mit mir, was habe ich mit ihr zu tun?
Lillian saß auf der
Tribüne. Sie spürte die Hypnose der eng zusammengepressten Menschenreihen und
versuchte sich dagegen zu wehren; aber es war unmöglich, sich ihr zu entziehen.
Der Lärm der vielen Motoren war betäubend wie eine tausendfache Anästhesie, die
von den Ohren her das Gehirn gleichzeitig lähmte und gleichschaltete und es dem
Massenfieber preisgab.
Nach einiger Zeit
gewöhnte sie sich, und plötzlich kam ein Rückschlag. Der Lärm schien sich von
dem zu trennen, was unten vorging. Er hing selbständig über der Landschaft,
während unter ihm die kleinen bunten Wagen vorüberhuschten. Es war wie ein
Kinderspiel; kleine Menschen in weißen und farbigen Overalls rollten Räder und
Wagenheber umher, Rennleiter hielten Flaggen und Schilder wie Biskuits hoch,
und dazwischen kam die künstliche Stimme des Ansagers aus dem Lautsprecher, die
Zeiten in Minuten und Sekunden angab, die erst allmählich einen Sinn bekamen.
Ein Pferderennen war ähnlich; ein Stierkampf auch – die Gefahr wurde durch
die Freiwilligkeit zum Spiel und zum Spielzeug, dem man den Ernst nicht recht
glaubte, wenn man nicht unmittelbar dabei war.
Lillian fühlte, wie
etwas in ihr gegen diesen flachen Rausch protestierte. Sie war selbst zu lange
und zu nahe am Tode gewesen, als daß ihr dieses Spiel mit ihm nicht frivol
vorkommen mußte. Es schien ihr ähnlich, als wenn Kinder auf der Straße versuchten,
vor heranfahrenden Autos noch rasch zur andern Seite hinüberzulaufen. Daß
Hühner es taten und dabei umkamen, wußte sie; daß Menschen es taten, war nicht
bewundernswert. Leben war etwas zu Großes, und auch der Tod war etwas zu
Großes – man spielte nicht damit. Mut zu haben war etwas anderes als keine
Angst zu haben; das eine war
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