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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Himmel kennt keine Guenstlinge
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Be­wußt­sein der Ge­fahr, das an­de­re Un­kennt­nis.
    »Cler­fa­yt!« sag­te
je­mand ne­ben ihr. »Wo ist er?«
    Sie schreck­te auf.
»Was ist mit ihm?«
    »Er soll­te längst
vor­bei­ge­kom­men sein.«
    Die Men­schen auf
der Tri­bü­ne wur­den un­ru­hig. Lil­li­an sah Tor­ria­ni, der zu ihr hin­über­blick­te,
wink­te, dann auf die Stre­cke zeig­te und wie­der zu ihr zu­rück­blick­te und wink­te,
sie mö­ge ru­hig sein, nichts sei pas­siert. Das er­schreck­te sie mehr als al­les
an­de­re. Er ist ge­stürzt, dach­te sie und saß sehr still. Das Schick­sal hat­te
zu­ge­schla­gen. Wäh­rend sie es nicht ahn­te, ir­gend­wo in ei­ner der vie­len Kur­ven
die­ser ver­damm­ten Stre­cke. Die Se­kun­den wur­den blei­ern, die Mi­nu­ten Stun­den.
Das Ka­rus­sell auf dem wei­ßen Band exis­tier­te nur noch wie ein bö­ser Traum, die
Brust wur­de ei­ne schwar­ze Höh­le, hohl vom War­ten. Dann kam die me­cha­ni­sche
Stim­me des Laut­spre­chers: »Der Wa­gen Cler­fa­yts, Num­mer zwölf, ist aus der Kur­ve
ge­tra­gen wor­den. Wir ha­ben noch kei­ne wei­te­ren Nach­rich­ten.«
    Lil­li­an hob lang­sam
den Kopf. Al­les war noch da wie vor­her – der Him­mel, die blaue Hel­lig­keit,
das Ter­ras­sen­bou­quet der Klei­der, die wei­ße La­va des be­stür­zen­den
si­zi­lia­ni­schen Früh­lings – aber ir­gend­wo war jetzt ein Punkt oh­ne Far­be,
ein Ne­bel, in dem Cler­fa­yt kämpf­te oder schon er­stickt war. Die Un­glaub­lich­keit
des Ster­bens griff plötz­lich wie­der mit nas­sen Hän­den nach ihr, die
Atem­lo­sig­keit, der die Stil­le folg­te, die nie zu be­grei­fen war; das
Nicht-Da­sein. Sie blick­te lang­sam an sich her­un­ter und um sich. War sie al­lein
be­fleckt mit dem un­sicht­ba­ren Aus­satz die­ses Wis­sens? Spür­te sie al­lein es so,
als zer­fie­len al­le Zel­len in ihr, als wä­ren al­le oh­ne Atem, und je­de ein­zel­ne
er­sti­cke in ih­rem ein­zel­nen Tod? Sie sah die Ge­sich­ter an. Sie sah nichts auf
ih­nen als die Gier der Sen­sa­ti­on, die Gier, die den Tod als Reiz ge­noß, nicht
of­fen, son­dern ver­steckt, um­wi­ckelt von falschem Be­dau­ern, von falschem Schreck
und von der Ge­nug­tu­ung, nicht selbst ge­trof­fen wor­den zu sein, die Gier, die
das gleich­gül­ti­ge Le­bens­ge­fühl einen Au­gen­blick lang auf­peitsch­te wie ei­ne
Sprit­ze Di­gi­ta­lis ein phleg­ma­ti­sches Herz.
    »Cler­fa­yt lebt«,
er­klär­te der An­sa­ger. »Er ist nicht ernst­haft ver­letzt. Er hat den Wa­gen selbst
auf die Stre­cke zu­rück­ge­bracht. Er fährt. Er ist wie­der im Ren­nen.«
    Lil­li­an hör­te das
Rau­nen, das über die Tri­bü­nen ging. Sie sah, wie die Ge­sich­ter sich än­der­ten.
Er­leich­te­rung war jetzt in ih­nen, Ent­täu­schung und Be­wun­de­rung. Je­mand war
ent­kom­men, hat­te Cou­ra­ge ge­zeigt, er war nicht nie­der­ge­bro­chen, er fuhr wei­ter.
Je­der auf der Tri­bü­ne fühl­te plötz­lich in sich die­sel­be Cou­ra­ge, als sei er es,
der wei­ter­füh­re, und für ein paar Mi­nu­ten kam sich selbst der wie­sel­haf­tes­te
Gi­go­lo als Held vor, der soignier­tes­te Pan­tof­fel­held als küh­ner To­des­ver­äch­ter.
Sen­sa­ti­ons­gier, der Be­glei­ter je­der Ge­fahr, bei der man selbst nicht in Ge­fahr
ist, schoß aus tau­send Ne­ben­nie­ren Ad­rena­lin in das Blut der Zu­schau­er. Das war
es, wo­für man sein Ein­tritts­geld be­zahlt hat­te!
    Lil­li­an fühl­te
einen ra­schen Zorn wie einen flim­mern­den Vor­hang vor ih­ren Au­gen. Sie hass­te
plötz­lich die Men­schen um sich her­um, sie hass­te je­den ein­zel­nen, sie hass­te
die Män­ner, die ih­re Schul­tern reck­ten, und die Frau­en, die ih­ren Reiz in
ver­häng­ten Bli­cken preis­ga­ben, sie hass­te die Wel­le von Sym­pa­thie, die sich jetzt
aus­brei­te­te, die Ge­ne­ro­si­tät der Mas­se, der das Op­fer ent­gan­gen war und die nun
um­schal­te­te auf Be­wun­de­rung, und dann hass­te sie Cler­fa­yt und wuß­te, daß es nur
ei­ne Re­ak­ti­on auf ih­re Angst war, und sie hass­te ihn trotz­dem, weil er die­ses
kin­di­sche Spiel um den Tod mit­spiel­te.
    Zum ers­ten Mal,
seit sie das Sa­na­to­ri­um ver­las­sen hat­te, dach­te sie an Wol­kow. Dann sah sie
un­ten Cler­fa­yt

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