E.M. Remarque
ungeduldig und
ärgerlich. Ich kann mich deshalb nicht ausstehen, aber so ist es nun einmal.«
»Das geht fast jedem so. Man fühlt sich
schuldig, weil man selbst gesund ist.«
»Ich fühle mich schuldig, weil der andere
krank ist.«
Ravic blieb auf der Treppe stehen. »Sie
sind doch nicht auch schon angeknackt?«
»Ist das nicht jeder?«
Er lächelte. »Es kommt auf den Grad der
Verdrängung an. Die, die am besten verdrängen, sind die gefährdetsten. Wer
alles ausspuckt, hat wenig zu fürchten.«
»Ich werde mir das merken«, sagte ich. »Was
ist mit Betty?«
»Wir müssen sie aufmachen. Vorher kann man
wenig sagen.«
»Haben Sie Ihre Examen alle hinter sich?«
»Ja.«
»Operieren Sie Betty?«
»Ja.«
»Auf Wiedersehen, Ravic.«
»Ich heiße jetzt Fresenburg. Mein
wirklicher Name.«
»Und ich immer noch Ross. Nicht mein
wirklicher Name.«
Er lachte und ging rasch davon.
***
»Du siehst dich um, als hätte
ich irgendwo ein totes Kind versteckt«, sagte Natascha.
»Das ist eine alte Gewohnheit. Man wird sie
so schnell nicht los.«
»Mußtest du dich oft verstecken?«
Ich sah sie überrascht an. Es war eine zu
blödsinnige Frage – so, als ob sie gefragt hätte, ob ich atmen müßte. Dann
fiel mir ein, daß sie ja nichts von dem Leben wußte, das ich geführt hatte, und
das gab mir merkwürdigerweise ein warmes Gefühl der Freude. Gottlob, dachte
ich, daß sie nichts davon weiß.
Sie stand in einem niedrigen Zimmer vor
einem breiten Fenster. Sie stand da, dunkel vor dem starken Licht, und ich
brauchte ihr keine Erklärungen zu geben und mich nicht als Flüchtling zu
fühlen. Ich nahm sie in die Arme und küßte sie. »Wie warm deine Schultern von
der Sonne sind«, sagte ich.
»Ich bin gestern hier eingezogen. Der
Eisschrank ist voll. Wir brauchen den ganzen Tag nicht auf die Straße zu gehen.
Es ist Sonntag heute, das hast du vielleicht vergessen.«
»Ich habe es nicht vergessen. Ist im
Eisschrank auch etwas zu trinken?«
»Zwei Flaschen Wodka. Und zwei Flaschen
Magermilch.«
»Kannst du kochen?«
»So so. Aber ich kann Steaks auf dem Grill
braten und Konserven aufmachen. Außerdem haben wir Mengen von Obst und Salat
und ein Radio. Wir können ein bürgerliches Leben beginnen.«
Sie lachte. Ich hielt sie im Arm und lachte
nicht. Mich traf das alles wie ein Dutzend weicher Pfeile; jene Art, die
Gummipfropfen trägt und die Kinder für ihre Luftpistolen brauchen. Sie
schmerzen nicht, aber man spürt sie doch. »Das ist nichts für dich, wie?«
fragte Natascha. »Zu philisterhaft.«
»Es ist das größte Abenteuer, das es gibt
in unserer Zeit«, erwiderte ich und atmete den Geruch ihres Haares ein, das
nach Zedern roch. »Jeder Buchhalter hat heute soviel Abenteuer wie früher König
Artus. Ich könnte Wochen vorm Radio sitzen, Bier trinken und die
Kleinbürgerlichkeit wie einen Purpurmantel um meine Schultern fühlen.«
»Hast du schon einmal Television
gesehen?« – »Wenig.«
»Das dachte ich mir. Du würdest bald
fluchend aufhören. Dein Purpurmantel würde bald unerträglich jucken.«
»Mir ist heute alles gleich. Weißt du, daß
es der erste Tag ist, an dem wir nicht in einer Kneipe oder im Hotel
herumlungern müssen?«
Sie nickte. »Das habe ich dir schon früher
gesagt. Du aber hast Fraser verdächtigt.«
»Ich verdächtige ihn auch jetzt noch. Aber
es ist mir egal.«
»Du wirst schon besser. Beruhige dich. Du
hast keinen Grund.«
Ich sah mich um. Es war ein kleines
Appartement im fünfzehnten Stock, das ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine
Küche und ein Bad hatte. Es war nicht elegant genug für Fraser. Das Wohnzimmer
und das Schlafzimmer hatten große Fenster, die eine weite Aussicht über New
York zeigten; man konnte von der 57. Straße bis Wallstreet sehen, vorbei an den
Wolkenkratzern und hinweg über die vielen Reihen der
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