E.M. Remarque
liegen.«
»Glaubst du, daß ich dann schlafen kann?
Ich glaube es nicht.«
»Wir können es versuchen. Vielleicht
schlafe ich auch ein.«
Sie war nach einigen Minuten fest
eingeschlafen. Ich betrachtete sie eine Zeitlang, ohne sie richtig zu sehen.
Die Klimaanlage summte fast unhörbar, und von unten kam gedämpftes
Klavierspiel. Jemand übte dort, der schlecht spielte, aber gerade daß er so
schlecht spielte, gab mir plötzlich die Illusion meiner Kindheit zurück und die
heißen Sommertage, wenn zögerndes, langsames Klavierspiel aus einer anderen
Etage durch die Wohnung tropfte und die Kastanien vor dem Fenster träge im Wind
raschelten.
Ich schreckte auf. Ich hatte auch
geschlafen. Vorsichtig stand ich auf und ging ins Nebenzimmer, um mich
anzuziehen. Meine Sachen lagen dort herum. Ich suchte sie zusammen, stand dann
am Fenster und schaute auf die fremde Stadt, die nichts von Erinnerungen und
Tradition an sich hatte. Nichts von Erinnerungen. Sie war neu und voll
ungestümer Zukunft. Ich stand lange und dachte über vieles nach. Das
Klavierspiel setzte wieder ein, aber es war eine Sonate von Clementi und keine
Etüde von Czerny, die da geübt wurde. Jemand spielte einen Blues, einen
langsamen Tanz. Ich ging zur Mitte des Zimmers, von wo ich Natascha sehen
konnte. Sie schlief nackt auf der Decke, eine Hand in ihrem Haar, den Kopf auf
der Seite. Ich liebte sie sehr. Ich liebte ihre Bedenkenlosigkeit. Sie war
immer ganz da, aber sie fiel einem nie zur Last, und sie war fort, ehe man es
sich versah. Ich ging wieder zurück zum Fenster und blickte wieder in die fast
orientalisch wirkende weiße Steinlandschaft, diese Mischung aus Algier und dem
Mond. Ich horchte auf das ununterbrochene Raunen des Verkehrs und betrachtete
die lange Reihe der Verkehrsampeln an der Zweiten Avenue, wie sie automatisch
von Grün auf Rot und wieder zurück auf Grün wechselten. Die Regelmäßigkeit
hatte etwas Beruhigendes und gleichzeitig Unmenschliches an sich, als würde die
Stadt bereits von Robotern regiert. Dies schien nichts Erschreckendes an sich
zu haben. Ich ging in die Mitte des Zimmers zurück und entdeckte, daß ich, wenn
ich mich umwandte, Natascha auch in einem gegenüberliegenden Spiegel im
Schlafzimmer sehen konnte. Es war ein sonderbares Wechselspiel, das mir nach
einiger Zeit unheimlich wurde – als wäre keiner von uns beiden wirklich,
und ich wäre in einem Turm zwischen zwei Spiegeln aufgehängt, die sich
gegenseitig ihre Bilder zuwarfen, bis sie sich ins Unendliche verloren.
Natascha regte sich. Sie seufzte und wandte
sich um. Ich überlegte, ob ich das Tablett mit Bierbüchsen und Papieren, mit
Pastrami und Brot in die Küche tragen sollte. Aber ich ließ es sein. Es lag mir
nichts daran, mit hausfraulichen Tugenden zu glänzen. Ich stellte nicht einmal
die Flasche mit Wodka in den Eisschrank; ich wußte allerdings, daß noch eine
zweite kalt drinnen stand. Ich dachte darüber nach, wie sonderbar mich diese
eigentlich doch alltägliche Situation angerührt hatte – nach Hause kommen
und jemand finden, der auf mich wartet und der jetzt nebenan voll Vertrauen und
ohne Furcht schläft. Es war lange her, daß mir etwas Ähnliches widerfahren war,
und damals war es eine trügerische Situation gewesen, an die ich nicht
zurückdenken wollte, bevor ich nicht wieder drüben war. Denn ich wußte, daß
diese Gedanken sehr gefährlich waren, daß ich auf einem schmalen Weg ohne
Geländer dahinschritt, der zu beiden Seiten in die Tiefe ging, und auf dem
weder Platz für Ironie noch für Reflektion war, sondern nur für Weitergehen
ohne Besinnen. Wenn ich wollte, konnte ich auf diesem Wege tanzen; aber ein
falscher Schritt war ebenso gefährlich wie bei
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