E.M. Remarque
hat.«
»Das tue ich schon. Ich habe Angst vor der
Dunkelheit. In Berlin hatte ich nie Angst.«
»Das ist lange her, Betty. Man ändert sich.
Ich hatte auch Zeiten, in denen ich mich fürchtete, im Dunkeln aufzuwachen.«
Sie heftete die glänzenden großen Augen auf
mich. »Immer noch?«
»Hier in New York immer noch. In
Kalifornien weniger.«
»Warum nicht? Was haben Sie getan? Sie
waren nachts nicht allein, wie?«
»Doch. Ich habe es vergessen, Betty. Ganz
einfach.«
»Das ist das beste«, sagte Ravic.
Betty drohte mir mit dem skelettartigen
Finger und lächelte ein entsetzliches Lächeln, die viel zu weite Haut ihres
Gesichtes bewegte sich, als arbeiteten unsichtbare Fäuste darunter. »Man
braucht ihn doch nur anzusehen«, sagte sie und blickte mich mit starren
kugeligen Augen an. »Er ist glücklich.«
»Wer ist schon glücklich, Betty«, sagte
ich.
»Das habe ich herausgefunden. Jeder, der
gesund ist. Man weiß es nur nicht, bis man krank wird. Und dann vergißt man es
wieder, wenn man es nicht mehr ist. Ganz weiß man es nur, wenn man stirbt.«
Sie richtete sich auf. Ihre Brüste hingen
wie leere Beutel unter ihrer geblümten Nachtjacke aus Kunstseide. »Alles andere
ist Unsinn«, keuchte sie mit ihrer atemlosen, etwas heiseren Stimme. »Das kann
ich nicht glauben, Betty«, sagte ich. »Sie haben doch so viele schöne
Erinnerungen. Die vielen Menschen, denen Sie geholfen haben! Die zahlreichen
Freunde, die Sie haben!«
Betty schwieg einen Augenblick. Dann winkte
sie mich nahe heran. Ich kam ungern, sie roch nach Pfefferminztabletten und
Verfall. »Alles egal«, flüsterte sie. »Alles wird auf einmal ganz egal! Glauben
Sie es mir.«
Der New Yorker Zwilling tauchte aus dem
grauen Wohnzimmer auf. »Betty hat heute ihren anonymen Tag«, sagte Ravic und
stand auf. »Cafard. Jeder hat das ab und zu. Ich habe es manchmal für Wochen.
Ich komme heute abend noch einmal. Wir machen eine harmlose Spritze.«
»Cafard«, murmelte Betty. »Heuchelei. Sooft
wir dieses Wort aussprechen, denken wir, wir seien in Frankreich. Wie
furchtbar, diese Vorstellung. Man kann immer noch unglücklicher sein, als man
glaubt. Ist es nicht so, Ravic?«
»Ja, Betty. Immer etwas glücklicher auch.
Hier ist kein Gestapomann hinter Ihnen her.«
»Doch. Einer.«
Ravic lächelte. »Der ist hinter uns allen
her, aber er ist langsam und verliert uns oft aus den Augen.«
Er ging. Der Zwilling breitete ein paar
Photos auf Bettys Bettdecke aus. »Der Olivaer Platz, Betty. Aus der Zeit vor
den Nazis!«
Betty wurde plötzlich lebendig.
»Tatsächlich? Wo hast du die her? Meine Brille! So etwas! Ist mein Haus auch zu
sehen?«
Der Zwilling brachte eine Brille. »Mein
Haus ist nicht drauf«, sagte Betty. »Es wurde von der anderen Seite
aufgenommen. Hier ist das Haus von Doktor Schlesinger. Man kann sogar den Namen
lesen. Natürlich war das vor der Zeit der Nazis. Sonst wäre das Schild nicht
mehr da.«
Es war eine gute Zeit, zu gehen. »Auf
Wiedersehen, Betty«, sagte ich. »Ich muß gehen.«
»Wollen Sie nicht bleiben?«
»Ich bin heute erst angekommen. Muß
auspacken.«
»Wie geht es meiner Schwester?« fragte der
Zwilling. »Sie ist jetzt allein in Hollywood. Ich bin nämlich gleich wieder
zurückgefahren.«
»Ich glaube, es geht ihr ganz gut.«
»Sie lügt so viel«, sagte der Zwilling.
»Sie hat das schon einmal gemacht. Nichts war wahr. Wir mußten von Vriesländer
Geld leihen, um zurückzukommen.«
»Warum bleiben Sie nicht Sekretärin bei
Vriesländer, bis Ihre Schwester Ihnen das Geld für die Hin- und Rückreise
schickt?«
»Da kann ich warten, bis ich einen Bart
habe. Und inzwischen könnte ich vielleicht doch eine Chance haben.«
Betty hatte das Gespräch angstvoll
verfolgt. »Du gehst nicht weg, Lissy, wie?« flehte sie. »Ich kann doch
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