E.M. Remarque
woran du nüchtern nie gedacht
hättest. Manche Leute sind im Rausch unwiderstehlich.«
»Aber dann hätte ich doch nichts davon. Ich
weiß dann nichts mehr. Es wäre dann, als wäre es nie gewesen!«
»Wenn du dir das doch umgekehrt einbilden
könntest. Als wäre es gewesen und du wüßtest nichts mehr davon.«
»Aber hör mal, das wäre ja Falschmünzerei!«
protestierte Lachmann erregt. »Man muß doch ehrlich bleiben!«
»Bist du ehrlich mit dem Tequila?«
»Ich bin ehrlich zu mir selbst.« Lachmann
beugte sich an mein Ohr. Sein Atem war heiß und feucht, obwohl er nur Wasser
schlürfte. »Ich habe herausgekriegt, daß Inez nur einen steifen Fuß hat und
nicht amputiert ist. Sie trägt diese Chromstütze aus Eitelkeit!«
»Aber Lachmann!«
»Ich weiß es. Du kennst die Frauen nicht.
Vielleicht will sie deshalb nicht? Damit ich es nicht herausfinde.«
Ich war einen Moment sprachlos. Amore, amour,
Blitzschlag des Irrtums, Hoffnung der tiefsten Hoffnungslosigkeit, sorgloses
Wunder weißer und schwarzer Magie, dachte ich, sei gegrüßt! Ich verneigte mich
feierlich. »Lieber Lachmann, ich grüße in dir den Sternentraum der Liebe!«
»Ach du mit deinen Witzen! Ich meine es
todernst.«
Raoul hatte sich emporgerappelt. »Meine
Herrschaften«, sagte er schweißüberströmt, »es lebe das Leben. Ich meine: gut,
daß wir noch leben. Wenn ich mir vorstelle, daß ich mir noch vor kurzem dieses
Leben nehmen wollte, so könnte ich mich ohrfeigen. Was sind wir doch für
Idioten, wenn wir glauben, am edelsten zu sein.«
Die Puertoricanerin begann plötzlich zu
singen. Es war ein spanisches Lied, wahrscheinlich aus Mexiko. Sie hatte eine
prachtvolle Stimme, tief und stark, wenn sie sang, die Augen unentwegt auf den
Mexikaner gerichtet. Es war ein Lied von einer so vehementen, natürlichen
Wollust, klagend fast, weit von jedem Nachdenken und jeder Zivilisation, aus
einer Zeit, in der die Menschheit ihr menschliches Gut, den Humor, noch nicht
erlernt hatte, direkt und schamlos und unschuldig. Der Mexikaner rührte nicht
einen Muskel. Auch die Frau blieb bewegungslos bis auf ihren Mund und ihre
Augen. Sie sahen sich an, ohne zu blinzeln, und die Melodie strömte und
strömte. Es war eine Vereinigung, ohne daß sie sich berührten, und jeder
fühlte, daß es das war. Ich sah, wie alle schwiegen, und ich sah sie alle,
während das Lied langsam strömte – Raoul und John, Lachmann und Melikow
und Natascha Petrowna, alle ernst und über sich selbst hinausgehoben durch
diese Frau, die nichts sah als den Mexikaner und in ihm, in seinem schäbigen
Gigologesicht, das Leben, und es war weder sonderbar noch lächerlich.
VIII.
I ch hatte drei Tage
Urlaub, bevor ich meine Stellung antrat. Am ersten Tag ging ich die Dritte
Avenue um jene Stunde entlang, die ich dort am meisten liebte: den späten
Nachmittag, wenn in den Antiquitätenläden die Zeit stehen blieb, die Schatten
blau wurden und die Spiegel erwachten. Aus den Restaurants begann der erste
Geruch von gebratenen Zwiebeln und Kartoffeln zu sickern, die Kellner fingen
an, die Tische zu decken, und die Hummer auf ihrem Folterbrett von Eis in den
großen Fenstern des King of the Sea versuchten mit ihren durch spitze
Holzpflöcke untauglich gemachten Scheren zu entfliehen. Ich konnte ihre runden,
gebogenen Körper nie ohne leisen Schauder sehen, sie erinnerten mich an die
Folterkammern in den Konzentrationslagern des Volkes der Dichter und Denker.
»Der Reichsjägermeister Hermann Göring
würde so etwas nicht gestatten«, sagte Kahn, den ich vor der Abteilung mit den
Riesenkrabben traf.
»Sie meinen die Hummer? Die Krabben sind
doch schon gevierteilt!«
Er nickte. »Das Dritte Reich ist berühmt
für seine Tierliebe. Der Schäferhund des Führers
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