E.M. Remarque
Fassungslosigkeit darüber, daß das Glück kein
Zustand war, sondern eine Welle im Wasser – bei keinem aber lauerte im
Schatten eine orestische Verpflichtung zur Rache, eine finstere Unschuld, eine
Verstrickung in Schuld und ein Pack von Erynnien, die die Erinnerung bewachten.
Wie glücklich und beneidenswert sie waren mit ihren Erfolgen, ihrem müden
Zynismus, ihren Bonmots und ihren harmlosen Unglücken, von denen ein Verlust in
Geld oder Liebe schon das Limit waren. Sie saßen alle vor mir wie Ziervögel
eines anderen Jahrhunderts und zwitscherten. Wie gern wäre ich einer von ihnen
gewesen, hätte vergessen und mit ihnen gezwitschert.
»Man verliert den Mut«, sagte Natascha.
»Man glaubt, man könne sich an Enttäuschungen gewöhnen. Das ist nicht wahr. Sie
schmerzen jedes Mal mehr. Sie schmerzen so, daß man Angst bekommt. Es ist, als
würde man jedes Mal mehr verbrannt. Und jedes Mal heilt es langsamer.« Sie
stützte ihren Kopf in die Hand. »Ich will nicht weiter verbrannt werden.«
»Wie wollen Sie das machen?« fragte ich.
»In ein Kloster gehen?« Sie machte eine ungeduldige Bewegung. »Man kann vor
sich selbst nicht davonlaufen.«
»Doch, man kann. Einmal. Aber von da kann
man nicht zurückkommen«, sagte ich und dachte an Moller, wie er einsam in New
York in einer heißen Nacht am Kronleuchter gehangen hatte – in seinem
guten Anzug und einem sauberen Hemd, zu dem er keine Krawatte angelegt hatte,
wie Lipschütz mir berichtet hatte. Eine Krawatte hätte die Erstickung
qualvoller gemacht, hatte er gemeint. Ich wollte das nicht glauben. Es kam mir
vor, als glaube einer, der in der Eisenbahn fährt, schneller anzukommen, wenn
er auf dem Korridor hin- und herläuft. Rabinowitz hatte das Thema gereizt, mit
der unpersönlichen Neugierde eines Gelehrten hatte er sich darüber verbreiten
wollen. Ich war dann weggegangen.
»Sie haben mir vor einigen Tagen einmal
erklärt, Sie wären unglücklich«, sagte ich. »Dann haben Sie mir nachher gesagt,
daß es nicht wahr sei. Geht das so schnell bei Ihnen? Wie glücklich Sie sind!«
»Beides war nicht wahr. Sind Sie wirklich
so naiv? Oder machen Sie sich über mich lustig?«
»Keines von beiden ist wahr?« sagte ich.
»Ich habe gelernt, mich über niemanden lustig zu machen, und ich habe gelernt,
alles erst einmal zu glauben, was man mir sagt. Es macht vieles einfacher.«
Natascha sah mich zweifelnd an. »Sie sind
merkwürdig«, sagte sie dann. »Sie reden wie ein alter Mann. Wollten Sie einmal
Priester werden?«
Ich lachte. »Nie.«
»Sie wirken manchmal so. Warum machen Sie
sich nicht über andere Leute lustig? Sie sind so ernst und könnten etwas Humor
gebrauchen! Aber die Deutschen ...«
Ich winkte ab. »Ich weiß. Die Deutschen
haben keinen Humor. Das stimmt sogar.«
»Was haben sie denn statt dessen?«
»Schadenfreude. Ein unübersetzbares
deutsches Wort. Dasselbe, das Sie mit Humor bezeichnen: sich über andere lustig
machen.«
Sie war einen Moment verlegen. »Getroffen,
Professor. Wie gründlich Sie sind!«
»Wie ein Deutscher«, sagte ich lachend.
»Und ich bin unglücklich. Oder leer. Oder
sentimental. Oder verbrannt. Verstehen Sie das nicht?«
»Doch.«
»Gibt es das auch bei Deutschen?«
»Es hat es gegeben. Früher.«
»Bei Ihnen auch?«
Der Kellner kam an den Tisch. »Der
Chauffeur läßt fragen, ob er eine Portion Eiscreme bestellen kann. Vanille und
Schokolade.« – »Zwei«, sagte ich.
»Man muß Ihnen alles aus den Zähnen
ziehen«, sagte Natascha Petrowna ungeduldig. »Können wir nicht endlich einmal
ein vernünftiges Gespräch führen? Sie sind auch unglücklich?«
»Ich weiß es nicht. Unglück ist so ein
zahmes Wort.«
Sie sah mich betroffen an. Je dunkler es
wurde, desto heller wurden ihre Augen. »Dann kann uns ja
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