E.M. Remarque
eigentlich nichts
passieren«, sagte sie schließlich fast zaghaft. »Wir sitzen beide in der
Tinte.«
»Nichts kann passieren«, bestätigte ich,
»wir sind beide gebrannte Kinder und höllisch vorsichtig.«
Der Kellner kam mit der Rechnung. »Ich
glaube, man schließt hier«, sagte Natascha.
Ich spürte einen Moment die alte Panik. Ich
wollte an diesem Abend nicht allein sein und fürchtete, Natascha wolle schon
gehen. »Haben Sie den Wagen nicht so lange, bis die Theater schließen?« fragte
ich.
»Doch. Wollen wir bis dahin umherfahren?«
»Sehr gerne.«
Wir standen auf. Die Terrasse und der Zoo
waren ganz leer. Die Dunkelheit hing mit schwarzen Fahnen in den Bäumen. Man
hätte das Gefühl haben können, auf einem Dorfplatz zu sein, wo in einem Brunnen
leise plätschernd die Seelöwen wie Negerkinder badeten und weiter entfernt die
Ställe für die Büffel und Zebras waren.
»Ist dies schon die Stunde, wo der Central
Park gefährlich wird?«
»Dies ist erst die Stunde der Voyeurs und
Perversen. Sie schleichen sich an die Bänke heran, auf denen Liebespaare sich
küssen. Die Stunde der Handtaschenräuber, Vergewaltiger und Mörder kommt
später, wenn es ganz dunkel ist. Auch die der Banden, die umherstrolchen.«
»Kann die Polizei nichts dagegen tun?«
»Sie fährt die Wege ab und hat Patrouillen,
aber der Park ist riesengroß, und man kann sich überall verstecken. Schade. Es
wäre schön, wenn es im Sommer anders wäre. Jetzt ist nichts zu fürchten; wir
sind ja nicht allein.«
Sie nahm meinen Arm. Jetzt ist nichts zu
fürchten, wir sind ja nicht allein, dachte ich und fühlte sie dicht neben mir.
Die Dunkelheit war keine Gefahr; sie schützte und verschwieg und hatte
Geheimnisse, die wie Trost aus ihr hervorglänzten. Ich spürte eine fast anonyme
Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die noch keinen Namen hatte und noch an
niemand gebunden war, die frei schwebte wie ein Hauch im späten Sommerabend und
doch schon ein sanfter Betrug war. Sie war nicht rein, sondern ein Gemisch aus
verschiedenen Gründen, es war Angst darin und die Furcht, daß die Vergangenheit
wieder aufziehen könnte, es war Feigheit dabei und der Wunsch, nicht noch
verloren zu gehen in jener geheimnisvollen und lauernden Zwischenzeit der
Hilflosigkeit, die zwischen Rettung und Entkommen liegt, und es war das blinde
Tasten darin, das nach allem greift, was wie Geborgenheit aussieht. Ich fühlte
Scham darüber, aber ich tröstete mich oberflächlich damit, daß auch Natascha
nicht sehr viel anders sei, daß auch sie wie eine Pflanze war, die sich an das
nächste anklammerte, ohne viel zu fragen und ohne allzu große Ehrlichkeit. Sie
wollte nicht allein sein in einer gestörten Periode ihres Lebens, und so wollte
auch ich es nicht mehr. Mit all den versteckten Gründen aber schwebte diese
laue, leichte Zärtlichkeit um uns her, die so gefahrlos zu sein scheint, weil
sie noch keinen Namen hat und keinen Schmerz kennt, der sich an sie wie ein
Geierfuß krallt und dem man sich deshalb so leicht ergibt.
»Ich bete dich an«, sagte ich plötzlich zu
meiner eigenen Überraschung und gegen meinen Willen, als wir durch den
Laubengang mit den gelben Laternen schritten, der zur Fifth Avenue führte, vor
uns den breiten Schatten des Chauffeurs. »Ich kenne dich nicht und bete dich
an, Natascha«, wiederholte ich und bemerkte, daß ich sie zum ersten Mal geduzt
hatte.
Sie wandte sich mir zu. »Es ist nicht
wahr«, erwiderte sie. »Du lügst und es ist nicht wahr. Aber sage es trotzdem,
es ist gut, diesen Satz zu hören.«
***
Ich wachte auf, aber
es dauerte eine Weile, ehe ich mir klarmachen konnte, daß ich geträumt hatte.
Erst allmählich erkannte ich die dunklen Konturen meines Zimmers wieder, die
helleren des Fensters und den schwachen Schein der rötlichen Nacht von New
York. Aber
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