E.M. Remarque
»Du
siehst jetzt aus wie ein Kind«, sagte er.
Sie nahm das Glas mit beiden Händen und trank. Sie trank
langsam und sah ihn über das Glas hinweg an. »Weshalb bist du aufgewacht?«
fragte sie.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, es war der Mond.«
»Ich hasse den Mond.«
»Du wirst ihn nicht hassen in Antibes.«
Sie setzte das Glas ab. »Fahren wir wirklich?«
»Ja, wir fahren.«
»Fort aus diesem Nebel und Regen?«
»Ja – fort aus diesem verdammten Nebel und Regen.«
»Gib mir noch ein Glas.«
»Willst du nicht schlafen?«
»Nein. Es ist zu schade, zu schlafen. Man versäumt zu
viel Leben durch Schlafen. Gib mir ein Glas. Ist es der gute? Wir wollten ihn
doch mitnehmen.«
»Man soll nichts mitnehmen.«
Sie sah ihn an. »Nie?«
»Nie.«
Ravic ging zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie
schlossen nur halb. Das Mondlicht fiel durch die Öffnung wie in einen
Lichtschacht und teilte das Zimmer in zwei Hälften diffuser Dunkelheit. »Warum
kommst du nicht ins Bett?« fragte Joan.
Ravic stand neben dem Sofa auf der anderen Seite der Mondhelle.
Er sah Joan undeutlich im Bett sitzen. Ihr Haar hing mattglänzend über ihren
Nacken. Sie war nackt. Zwischen ihr und ihm strömte das kalte, nicht
irgendwohin strömende, nur in sich selbst strömende Licht wie zwischen zwei
dunklen Ufern. In das Viereck des Zimmers, voll vom warmen Geruch des Schlafes,
strömte es hinein einen endlosen Weg durch schwarzen, luftlosen Äther,
gebrochenes Licht, aufgeprallt auf einen fernen, toten Stern und magisch
verwandelt aus warmem Sonnenglanz in das bleierne, kalte Strömen – es strömte
und strömte und stand doch still und füllte das Zimmer nie.
»Warum kommst du nicht?« fragte Joan.
Ravic ging durch das Zimmer, durch das Dunkel und das
Licht und wieder durch das Dunkel, es waren wenige Schritte, aber es schien ihm
weit.
»Hast du die Flasche mitgebracht?«
»Ja.«
»Willst du das Glas? Wie spät ist es?«
Ravic sah auf das kleine Zifferblatt der Uhr mit den
phosphoreszierenden Zahlen. »Ungefähr fünf Uhr.«
»Fünf. Es könnte auch drei sein. Oder sieben. Nachts
steht die Zeit still. Nur die Uhren gehen.«
»Ja. Und trotzdem geschieht alles nachts. Oder deshalb.«
»Was?«
»Das, was am Tage dann sichtbar wird.«
»Mach mir keine Angst. Du meinst, eigentlich schon
vorher, wenn man schläft?«
»Ja.«
Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank. Sie war
sehr schön, und er fühlte, daß er sie liebte. Sie war nicht schön wie eine
Statue oder wie ein Bild; sie war schön wie eine Wiese, über die der Wind weht.
Es war das Leben, das in ihr klopfte und das sie geheimnisvoll aus dem
Zusammenprall zweier Zellen, aus einem Nichts in einem Schoß, so geformt hatte,
wie sie war. Es war dasselbe, unbegreifliche Rätsel, daß in einem winzigen
Samenkorn schon der ganze Baum war, versteinert, mikroskopisch, aber da, vorher
bestimmt, Wipfel schon und Frucht und schon der Blütenschauer aller Aprilmorgen
in ihm – und daß aus einer Liebesnacht und einem bißchen Schleim, der sich
traf, ein Gesicht wurde, Schultern und Augen, gerade diese Augen und Schultern,
und daß sie da waren, irgendwo verstreut, unter Millionen von Menschen,
irgendwo auf der Welt, und dann stand man in einer Novembernacht am Pont de
l’Alma in Paris, und sie kamen auf einen zu …
»Warum nachts?« fragte Joan.
»Weil«, sagte Ravic, »komm nahe zu mir, Geliebte,
wiedergeschenkt aus den Abgründen des Schlafes, zurückgekommen von den
Mondwiesen des Ungefährs – weil die Nacht und der Schlaf Verräter sind. Weißt
du noch, wie wir einschliefen, in dieser Nacht, einer dicht neben dem andern, wir
waren uns so nahe, wie Menschen sich nur nahe sein können. Unsere Stirnen,
unsere Haut, unsere Gedanken, unser Atem berührten sich, vermischten sich – und
dann langsam begann der Schlaf zwischen uns zu sickern, grau, farblos, ein paar
Flecken erst, dann mehr, wie Aussatz fiel
Weitere Kostenlose Bücher