E.M. Remarque
hörte er die Verfolger dichter. Sie kamen direkt auf ihn zu. Er riß sich
hoch, aber er sank wieder in den Gummiknien ein. Er zerrte an den Beinen, er
watete weiter, mühselig, und hörte näher und näher das Knacken hinter sich,
dann schien der Himmel auf einmal blau durch das Geäst, eine Lichtung tat sich
auf, er wußte, er war verloren, wenn er nicht schnell hinüberlaufen konnte, er
zerrte und zerrte und drehte sich um und sah hinter sich ein Gesicht, hämisch
lächelnd, Haakes Gesicht, er sank und sank, wehrlos, hilflos, er erstickte, er
riß an der einsinkenden Brust mit den Händen, er stöhnte …
Stöhnte er? Wo war er? Er spürte seine Hände an seinem
Hals. Sie waren naß. Sein Hals war naß. Seine Brust war naß. Sein Gesicht war
naß. Er öffnete die Augen. Er wußte immer noch nicht ganz, wo er war, im Morast
des Tannendickichts oder sonstwo. Er wußte noch nichts von Paris. Ein weißer
Mond hing an einem Kreuz über einer unbekannten Welt. Ein bleiches Licht hing
wie ein gemordeter Heiligenschein hinter einem dunklen Kreuz. Ein weißes, totes
Licht schrie lautlos an einem fahlen, eisenfarbenen Himmel. Der volle Mond
hinter dem Holzkreuz des Fensters in einem Zimmer im Hotel International in
Paris. Ravic richtete sich auf. Was war das nur gewesen? Ein Eisenbahnzug voll
Blut, triefend von Blut, rasend durch einen Sommerabend, über blutige Schienen
– der hundertmal geträumte Traum, wieder in Deutschland zu sein, umstellt,
verfolgt, gehetzt von den Schergen eines blutigen Regimes, das den Mord
legalisiert hatte – wie oft war das schon so gewesen! Er starrte in den Mond,
der der Welt die Farben aussaugte mit seinem geborgten Licht. Die Träume, voll
vom Grauen der Konzentrationslager, voll von starren Gesichtern erschlagener
Freunde, voll vom tränenlosen, versteinerten Schmerz der Überlebenden, voll vom
schweren Abschied und einem Alleinsein, das schon jenseits aller Klage war – am
Tage gelang es, die Barriere zu bilden, den Wall, der höher war als die Augen –
in schweren, langen Jahren hatte man ihn langsam gebaut, die Wünsche mit
Zynismus erwürgt, die Erinnerungen mit Härte begraben und eingestampft, alles
von sich heruntergerissen bis zum Namen, die Gefühle zementiert – und wenn
irgendwann trotzdem einmal das blasse Gesicht der Vergangenheit in einer
unbewachten Stunde süß, geisterhaft und rufend aufstieg, hatte man es in
Alkohol bis zur Besinnungslosigkeit ersäuft. Am Tage – aber in den Nächten war
man immer noch ausgeliefert, die Bremsen der Disziplin lösten sich, und der
Karren begann zu rutschen, hinter dem Horizont des Bewußtseins stieg es wieder
auf, aus Gräbern brach es hervor, der gefrorene Krampf löste sich, die Schatten
kamen, das Blut dampfte, die Wunden tropften, und der schwarze Sturm fegte über
alle Bollwerke und Barrikaden! Vergessen – das war leicht, solange die Laterne
des Willens die Welt beleuchtete; aber wenn sie erlosch und das Geräusch der
Würmer hörbar wurde, wenn eine zerstörte Welt wie ein untergegangenes Vineta
aus den Fluten emporstieg und wieder lebte – das war etwas anderes. Man konnte
sich den schweren, bleiernen Rausch antrinken. Abend für Abend, der auch das
alles niederschlug – man konnte die Nächte zu Tagen machen und die Tage zu
Nächten – man träumte anders am Tage, nicht in dieser Verlorenheit,
hinausgeworfen aus allem, wie nachts. Hatte er es nicht getan? Wie oft war er
erst, wenn das Morgengrauen durch die Straßen kroch, ins Hotel zurückgegangen?
Oder hatte gewartet, in den Katakomben, mit jedem, der mit ihm trinken wollte,
bis dann Morosow kam, aus der Scheherazade, und der mit ihm weitertrank unter
den künstlichen Palmen, wo nur die Uhr in dem fensterlosen Raum zeigte,
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