E.M. Remarque
schmaler Silberstreifen aus dem Wasser. Es war so still, daß sie sich
atmen hörten. Sie waren die letzten Gäste gewesen. Die Zigeuner waren vor ihnen
in einem alten Ford die Serpentinen hinuntergefahren. Die Kellner in Citroëns.
Der Koch zum Einkaufen in einem sechssitzigen Delahaye aus dem Jahre 1929.
»Das ist schon der Tag«, sagte Ravic. »Irgendwo auf der
anderen Seite ist es jetzt immer noch Nacht. Einmal wird es Flugzeuge geben,
mit denen man sie einholen kann. Sie werden so schnell sein, wie die Erde sich
dreht. Wenn du mich dann um vier Uhr nachts liebst, können wir es für immer
vier Uhr sein lassen; wir fliegen einfach mit der Zeit um die Erde, und die
Stunde steht still.«
Joan lehnte sich an ihn. »Ich kann mir nicht helfen. Es
ist schön! Es ist hinreißend schön. Du kannst lachen ...«
»Es ist schön, Joan.«
Sie sah ihn an. »Wo ist das Flugzeug, von dem du
sprachst? Wir werden alt sein, Liebster, wenn es erfunden wird. Und ich will
nicht alt werden. Du?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»So alt wie möglich.«
»Warum?«
»Ich will sehen, was aus diesem Planeten noch wird.«
»Ich will nicht alt werden.«
»Du wirst nicht alt werden. Das Leben wird über dein
Gesicht hingehen, das wird alles sein, und es wird schöner werden. Alt ist man
nur, wenn man nicht mehr fühlt.«
»Nein, wenn man nicht mehr liebt.«
Ravic antwortete nicht. Verlassen, dachte er. Dich
verlassen! Was habe ich da vor ein paar Stunden in Cannes nur gedacht?
Sie rührte sich in seinem Arm. »Jetzt ist das Fest
vorbei, und ich gehe nach Hause mit dir, und wir schlafen zusammen. Wie schön
das alles ist! Wie schön ist es, wenn man ganz lebt und nicht nur mit einem
Stück von sich. Wenn man voll ist bis zum Rande und still, weil es nichts mehr
gibt, das hinein kann. Komm, laß uns nach Hause fahren, in unser geborgtes
Zuhause, in dieses weiße Hotel, das aussieht wie ein Gartenhaus.«
Der Wagen glitt fast ohne Gas die Serpentinen hinunter.
Es wurde langsam heller. Die Erde roch nach Tau. Ravic löschte die Scheinwerfer
aus. Als sie Corniche passierten, kamen ihnen Wagen mit Blumen und Gemüse
entgegen. Sie waren auf dem Wege nach Nizza. Später überholten sie eine
Kompanie Spahis. Sie hörten die Pferde trappeln durch das Summen des Motors. Es
klang hell und beinahe künstlich auf der Makadamstraße. Die Gesichter der
Reiter waren dunkel unter den Burnussen.
Ravic sah Joan an. Sie lächelte ihm zu. Ihr Gesicht war
blaß und verwacht und fragiler als sonst. Es schien ihm schöner als jemals
vorher in seiner zärtlichen Müdigkeit, an diesem zauberhaften, dunkelstillen
Morgen, vor dem das Gestern weit versunken war und der noch keine Stunde hatte;
er schwebte und war noch ohne Zeit, voll Gelassenheit und ohne Furcht und
Frage.
Die Bucht von Antibes kam in großem Bogen auf sie zu. Es
wurde immer heller. Vor dem aufblauenden Tag standen die eisengrauen Schatten
von vier Kriegsschiffen: drei Zerstörer und ein Kreuzer. Sie mußten über Nacht
eingelaufen sein. Niedrig und drohend und lautlos standen sie vor dem zurückweichenden
Himmel. Ravic sah auf Joan. Sie war an seiner Schulter eingeschlafen.
17
17 Ravic
ging zur Klinik. Er war seit einer Woche zurück von der Riviera. Plötzlich
blieb er stehen. Was er sah, wirkte wie eine Kinderspielerei. Der Neubau
glänzte in der Sonne, als wäre er aus einem Modellkasten aufgebaut; die Gerüste
standen wie Filigran vor dem hellen Himmel – und als eines sich davon löste und
ein Balken mit einer Figur langsam zu kippen begann, sah es aus, als fiele ein
Streichholz mit einer Fliege daran herunter. Es fiel und fiel und schien endlos
zu fallen – die Figur löste sich und war jetzt eine kleine Puppe, die die Arme
ausstreckte und ungeschickt durch den Raum segelte. Es war, als sei die Welt
einen Augenblick eingefroren und
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