E.M. Remarque
Fall.«
»Einen Augenblick, mein Herr. Sie sind der Arzt?«
»Ich habe die Ader abgebunden, das ist alles. Jetzt
brauchen Sie nur noch auf die Ambulanz zu warten.«
»Einen Moment, mein Herr! Ich muß Ihren Namen
aufschreiben. Es ist wichtig, daß Sie Zeuge sind. Die Frau kann sterben.«
»Sie wird nicht sterben.«
»Das weiß niemand. Da ist noch die Frage des
Schadenersatzes.«
»Haben Sie einer Ambulanz telefoniert?«
»Mein Kollege tut das. Stören Sie mich jetzt nicht, sonst
dauert es noch länger.«
»Die Frau ist halbtot, und Sie wollen weg«, sagte einer
der Arbeiter vorwurfsvoll zu Ravic.
»Sie wäre tot, wenn ich nicht dagewesen wäre.«
»Na also«, sagte der Arbeiter ohne sichtbare Logik. »Da
müssen Sie doch bleiben.«
Ein Kameraverschluß tickte. Ein Mann, der einen Hut trug,
der vorn aufgeschlagen war, lächelte. »Würden Sie noch einmal so tun, als
machten Sie den Verband fest?« fragte er Ravic.
»Nein.«
»Es ist die Presse«, sagte der Mann. »Sie kommen mit
hinein, mit Adresse und Text: daß Sie die Frau gerettet haben. Gute Reklame.
Bitte hier, so – das Licht ist so besser.«
»Gehen Sie zum Teufel!« sagte Ravic. »Die Frau braucht
dringend eine Ambulanz. Der Verband kann nicht lange so bleiben. Sehen Sie zu,
daß eine Ambulanz kommt.«
»Alles nacheinander, mein Herr«, erklärte der Polizist.
»Ich muß erst einmal das Protokoll fertig haben.«
»Hat der Tote dir schon gesagt, wie er heißt?« fragte ein
halbwüchsiger Junge.
»Ta gueule!« Der Polizist spuckte ihm vor die Füße.
»Fotografieren Sie es noch einmal von hier«, sagte jemand
zu dem Fotografen.
»Warum?«
»Damit man sieht, daß die Frau auf dem abgesperrten
Trottoir war. Die Straße war gesperrt. Sehen Sie dort …«, er zeigte auf eine
schrägstehende Latte mit der Aufschrift: Attention! Danger! »Nehmen Sie das so
auf, daß man es sieht. Wir brauchen das. Schadenersatz kommt nicht in Frage.«
»Ich bin Pressefotograf«, sagte der Mann mit dem Hut
ablehnend. »Ich fotografiere nur, was ich für interessant halte.«
»Aber das ist doch interessant! Was ist denn sonst
interessant? Mit dem Schild im Hintergrund.«
»Ein Schild ist nicht interessant. Aktion ist
interessant.«
»Dann nehmen Sie es ins Protokoll.« Der Mann tippte dem
Polizisten auf die Schulter.
»Wer sind Sie denn?« fragte der ärgerlich.
»Ich bin der Vertreter der Baufirma.«
»Schön«, sagte der Polizist. »Bleiben Sie auch mal hier.
Wie heißen Sie? Das müssen Sie doch wissen?« fragte er die Frau. – Die Frau
bewegte die Lippen. Die Augenlider begannen zu flattern. Wie Schmetterlinge,
wie todmüde, graue Motten, dachte Ravic, und im gleichen Moment: ich Idiot! Ich
muß sehen, daß ich verschwinde!
»Verdammt!« sagte der Polizist. »Vielleicht ist sie
verrückt geworden. Das gibt Arbeit! Und mein Dienst ist um drei zu Ende.«
»Marcel«, sagte die Frau.
»Was? Augenblick mal. Was?« Der Polizist beugte sich
wieder hinunter.
Die Frau schwieg. »Was?« Der Polizist wartete. »Noch
einmal! Sagen Sie das noch einmal!«
Die Frau schwieg. »Sie mit Ihrem gottverdammten Gerede«,
sagte der Polizist zu dem Vertreter der Baufirma. »Wie soll man dabei sein
Protokoll kriegen?«
In diesem Augenblick klickte wieder der Verschluß der
Kamera. »Danke«, sagte der Fotograf. »Sehr lebendig.«
»Haben Sie unser Zeichen mit drauf?« fragte der Vertreter
der Baufirma, ohne auf den Polizisten zu hören. »Ich bestelle sofort ein halbes
Dutzend.«
»Nein«, erklärte der Fotograf. »Ich bin Sozialist. Zahlen
Sie nur die Versicherung, Sie jammervoller Jagdhund der Millionäre.«
Eine Sirene schrillte. Die Ambulanz. Dies ist der
Augenblick, dachte Ravic. Er machte vorsichtig einen Schritt. Aber der Polizist
hielt ihn fest. »Sie müssen mit zur Wache
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