E.M. Remarque
totenstill. Nichts regte sich, kein Wind, kein
Atem, kein Ton – nur die kleine Figur und der starre Balken fielen und fielen …
Dann war plötzlich alles Lärm und Bewegung. Ravic fühlte,
daß er den Atem angehalten hatte. Er lief.
Der Verunglückte lag auf dem Pflaster. Die Straße war
eine Sekunde vorher fast leer gewesen. Jetzt schwärmte sie von Menschen. Sie
kamen von allen Seiten, als hätte eine Alarmglocke geläutet. Ravic drängte sich
durch. Er sah, daß zwei Arbeiter den Verunglückten hochzuheben versuchten.
»Nicht heben! Liegenlassen!« rief er.
Die Leute um ihn und vor ihm machten Platz. Die beiden
Arbeiter hielten den Verunglückten halb schwebend. »Langsam herunterlassen!
Vorsichtig! Langsam!«
»Was sind Sie?« fragte einer der Arbeiter. »Arzt?«
»Ja.«
»Gut.«
Die Arbeiter legten den Verunglückten auf das Pflaster.
Ravic kniete neben ihm nieder und horchte. Er öffnete vorsichtig die schweißige
Bluse und fühlte den Körper ab. Dann stand er auf. – »Was?« fragte der
Arbeiter, der ihn vorher gefragt hatte. »Bewußtlos, was?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Was?« fragte der Arbeiter.
»Tot«, sagte Ravic.
»Tot?«
»Ja.«
»Aber«, sagte der Mann verständnislos, »wir haben doch
gerade noch mit ihm zusammen Mittag gegessen.«
»Ist da ein Arzt?« fragte jemand hinter dem Ring von
starrenden Menschen.
»Was ist los?« fragte Ravic.
»Ist da ein Arzt? Schnell!«
»Was ist los?«
»Die Frau ...«
»Was für eine Frau?«
»Der Balken hat sie getroffen. Sie blutet.«
Ravic drängte sich durch. Eine kleine Frau in einer
großen blauen Schürze lag auf einem Haufen Sand neben einer Kalkgrube. Ihr
Gesicht war faltig, sehr blaß, und ihre Augen standen regungslos wie Kohlen
darin. Unter dem Hals spritzte das Blut wie eine kleine Fontäne hervor. Es
spritzte in einem puckernden, schiefen Strahl seitlich heraus, und das wirkte
sonderbar unordentlich. Unter dem Kopf fraß sich eine schwarze Lache rasch
durch den Sand.
Ravic drückte die Arterie ab. Er riß eine Bandage aus der
schmalen Notfalltasche, die er automatisch bei sich trug. »Halten Sie das!«
sagte er zu dem nächsten neben ihm.
Vier Hände griffen gleichzeitig nach der Tasche. Sie fiel
in den Sand und öffnete sich. Er riß eine Schere und einen Knebel heraus und
riß die Bandage auf.
Die Frau sagte nichts. Nicht einmal ihre Augen bewegten
sich. Sie war starr, und jeder Muskel ihres Körpers war gespannt. »Alles in
Ordnung, Mutter«, sagte Ravic.
»Alles in Ordnung.«
Der Balken hatte Schulter und Hals getroffen. Die
Schulter war zerschmettert; das Schlüsselbein gebrochen und das Gelenk
zerschlagen. Es würde steif bleiben. »Es ist der linke Arm«, sagte Ravic und
fühlte langsam den Nacken ab. Die Haut war eingerissen, aber alles andere war
heil. Der Fuß war verdreht; er betastete den Knochen und das Bein. Graue
Strümpfe, oft gestopft, aber heil, mit einem schwarzen Band unter dem Knie
gehalten – wie genau man das immer wieder alles sah! Schwarze Schnürschuhe
geflickt, die Schnürriemen geknotet mit einem doppelten Knoten, die Schuhe an
den Spitzen repariert.
»Hat jemand nach der
Ambulanz telefoniert?« fragte er.
Niemand antwortete. »Ich glaube, der Polizist«, sagte
jemand nach einer Weile.
Ravic hob den Kopf. »Polizist? Wo ist er?«
»Drüben – bei dem andern ...«
Ravic stand auf. »Dann ist alles in Ordnung.«
Er wollte gehen. In diesem Augenblick schob sich der
Polizist durch die Menge. Es war ein junger Mann mit einem Notizblock in der
Hand. Er leckte aufgeregt an einem kurzen, stumpfen Bleistift.
»Einen Augenblick«, sagte er und begann zu schreiben.
»Hier ist alles in Ordnung«, sagte Ravic.
»Einen Augenblick, mein Herr.«
»Ich bin sehr eilig. Ich muß zu einem dringenden
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