E.M. Remarque
erregender als die
Venus, die ihr Geschlecht verbarg und damit auf es deutete. Sie war den Vögeln
verwandt und den Schiffen – dem Wind, den Wellen und dem Horizont. Sie hatte
keine Heimat.
Sie hatte keine Heimat, dachte Ravic. Aber sie brauchte
auch keine. Sie war auf allen Schiffen zu Hause, wo Mut und Kampf, und sogar in
der Niederlage, wenn sie ohne Verzweiflung war.
Sie war nicht nur die Göttin des Sieges – sie war auch
die Göttin voller Abenteuer und die Göttin der Emigranten – solange sie nicht
aufgaben.
Er sah sich um. Niemand mehr in der Halle. Die Studenten
und die Leute mit den Baedekern waren nach Hause gegangen. Nach Hause – was für
ein anderes Zuhause gab es für den, der nirgendwohin gehörte, als das
stürmische im Herzen eines andern für eine kurze Zeit? War das nicht der Grund,
daß die Liebe, wenn sie in das Herz der Heimatlosen einschlug, sie so
schüttelte und sie so ganz besaß – weil sie nichts anderes hatten? Hatte er
nicht deshalb versucht, ihr aus dem Wege zu gehen? Und war sie ihm nicht
nachgekommen und hatte ihn erreicht und nieder« geschlagen? Es war schwerer,
sich auf dem schlüpfrigen Eis der Fremde wieder aufzurichten als auf der
vertrauten Erde des Gewohnten.
Etwas fing sein Auge. Etwas Kleines, Flatterndes, Weißes.
Es war ein Schmetterling, der durch die offene Eingangstür hereingeflogen sein
mußte. Er war irgendwoher gekommen, von den warmen Rosenbeeten der Tuilerien,
aufgeschreckt vielleicht von zwei Liebenden aus seinem Duftschlaf, geblendet
dann durch Lichter, die unbekannte Sonnen waren, viele, verwirrende – er hatte
sich geflüchtet in den Eingang, in das schützende Dunkel, das die großen Türen
bargen –, und jetzt taumelte er verloren und mutig in der großen Halle umher,
in der er sterben würde – müde werden, schlafen auf einem Mauersims, einem
Fenstervorsprung oder auf der Schulter der strahlenden Göttin hoch oben, am
Morgen würde er nach Blumen suchen und Leben und dem hellen Honig der Blüten
und sie nicht finden und irgendwann wieder einschlafen auf tausendjährigem
Marmor, schwächer schon, bis der Griff der zarten zuverlässigen Füße sich lösen
und er herabfallen würde, ein schmales Blatt vorzeitigen Herbstes.
Sentimentalität, dachte Ravic. Die Göttin des Sieges und
der Refugié Schmetterling. Billiges Symbol. Aber was rührte anders als die
billigen Dinge, die billigen Symbole, die billigen Gefühle, die billige
Sentimentalität? Was hatte sie denn so billig gemacht? Ihre überdeutliche
Wahrheit? Der Snobismus verflog, wenn es einem an die Kehle ging. Der
Schmetterling war im Halbdunkel der Kuppel verschwunden. Ravic ging hinaus. Die
warme Luft draußen kam ihm entgegen, lau wie ein Bad. Er blieb stehen. Billige
Gefühle! War er selbst nicht ausgeliefert dem billigsten von allen? Er starrte
in den weiten Hof, in dem die Schatten der Jahrhunderte hockten, und er spürte,
wie es plötzlich mit Fäusten auf ihn einschlug. Er taumelte fast unter dem
Ansturm. Die weiße, auffliegende Nike geisterte noch vor seinen Augen – aber
dahinter tauchte aus dem Schatten ein anderes Gesicht auf, ein billiges
Gesicht, ein kostbares Gesicht, in dem seine Phantasie sich gefangen hatte wie
ein indischer Schleier in einem Rosenbusch voll Dornen. Er zerrte daran, aber
die Dornen hielten fest, sie hielten die seidenen und goldenen Fäden fest, sie
waren so verknüpft schon damit, daß das Auge nicht mehr ganz unterscheiden
konnte, was dorniges Gezweig war und was schimmerndes Gewebe.
Gesicht! Gesicht! Wer fragte, ob es billig oder kostbar
war. Einmalig oder tausendmalig? Man konnte vorher Fragen stellen – aber wenn
man einmal gefangen war, wußte man es nicht mehr. Man
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