E.M. Remarque
kann. Ich sehe mir selbst über die Schulter, aber es ändert
nichts. Ich weiß, wenn ich es bekäme, würde ich es wieder loslassen, aber das
löscht mein Verlangen nicht. Ich seziere es wie einen toten Körper auf dem
Tisch in der Morgue – aber er wird noch tausendmal lebendiger. Ich weiß, daß es
irgendwann vorbeigehen wird – aber es hilft mir nichts. Er starrte mit
geblendeten Augen zu dem Fenster hinauf, und er fühlte sich entsetzlich
lächerlich – und auch das änderte nichts.
Ein schwerer Donner rollte plötzlich über die Stadt.
Regentropfen klatschten ins Gebüsch. Ravic stand auf. Er sah, wie die Straße
sich mit schwarzem Silber sprenkelte. Der Regen begann zu singen. Die dicken
Tropfen schlugen ihm warm ins Gesicht. Und plötzlich wußte er nicht mehr, ob er
lächerlich war oder elend, ob er litt oder nicht – er wußte nur noch, daß er
lebte. Er lebte! Er war da, es hatte ihn wieder, es schüttelte ihn, er war kein
Zuschauer mehr, kein Außenstehender mehr, der große Glanz des unkontrollierbaren
Gefühls schoß wieder durch seine Adern wie Feuer durch Hochofenröhren, es war
fast gleichgültig, ob er glücklich oder unglücklich war, er lebte und er spürte
voll, daß er lebte, und das war genug!
Er stand im Regen, der auf ihn niederstürzte wie ein
himmlisches Maschinengewehrfeuer. Er stand da, und er war Regen und Sturm und
Wasser und Erde, die Blitze von den Horizonten kreuzten sich in ihm; er war
Kreatur, Element; nichts hatte mehr Namen und wurde einsam dadurch, alles war
dasselbe, die Liebe, das stürzende Wasser, die fahlen Feuer über den Dächern,
die Erde, die sich aufzuwölben schien, keine Grenzen waren mehr da, und er
gehörte dazu, und Glück und Unglück waren nur noch leere Hülsen,
weggeschleudert von dem mächtigen Gefühl, zu leben und sich lebend zu fühlen.
»Du da oben«, sagte er gegen das erleuchtete Fenster und lachte und wußte
nicht, daß er lachte. »Du kleines Licht, du Fata Morgana, du Gesicht, das eine
sonderbare Macht über mich hat, auf diesem Planeten, auf dem es hunderttausend
andere gibt, bessere, schönere, klügere, gütigere, treuere, verständigere – du
Zufall, mir nachts über den Weg geworfen, in mein Leben gefallen, du
angeschwemmtes, gedankenloses, besitzergreifendes Gefühl, unter meine Haut
gekrochen im Schlaf, du, die von mir fast nichts anderes weiß, als daß ich
widerstand, und die sich mir deshalb entgegenwarf, bis ich nicht mehr
widerstand, und die dann weiter wollte, sei gegrüßt! Hier stehe ich und
glaubte, nie wieder einmal so zu stehen. Der Regen rinnt durch mein Hemd und
ist wärmer und kühler und weicher als deine Hände und deine Haut; hier stehe
ich, elend und mit den Krallen der Eifersucht im Magen, dich verlangend, dich
verachtend, dich bewundernd, dich anbetend, weil du den Blitz geworfen hast,
der gezündet hat, den Blitz, der in jedem Schoße ruht, den Funken Leben, das
schwarze Feuer; hier stehe ich, nicht mehr wie ein Toter auf Urlaub mit kleinem
Zynismus, Sarkasmus und etwas Mut, nicht mehr kalt; lebendig wieder, leidend
meinetwegen, aber offen wieder den Gewittern des Lebens, zurückgeboren in seine
schlichte Gewalt! Sei gebenedeit, Madonna mit dem flüchtigen Herzen, Nike mit
dem rumänischen Akzent. Traum und Betrug, zerbrochener Spiegel eines dunklen
Gottes, Ahnungslose – sei bedankt! Nie werde ich es dir sagen, denn du würdest
unbarmherzig Kapital daraus schlagen, aber du hast mir wiedergegeben, was weder
Plato noch Sternchrysanthemen, weder Flucht noch Freiheit, weder alle Poesie
noch alles Erbarmen, weder Verzweiflung noch höchste und geduldigste Hoffnung
mir geben konnte: das einfache, starke, direkte Leben, das mir wie ein
Verbrechen erschien in dieser Zeit zwischen
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