E.M. Remarque
von Flieder, grau überstaubt.
Bänke. Auf einer schlief ein Mann, das Gesicht mit einer Nummer des »Paris
Soir« zugedeckt. Es war dieselbe Bank, auf der Ravic in der Regennacht gesessen
hatte.
Er sah den Schlafenden an. Der »Paris Soir« hob sich
atmend über dem verdeckten Gesicht, als habe das Schundblatt eine Seele oder
sei ein Schmetterling, der gleich, mit großen Nachrichten, zum Himmel fliegen
wolle. Sacht atmete die fette Überschrift: Hitler erklärt, außer dem polnischen
Korridor keine territorialen Wünsche mehr zu haben. Und darunter: Plätterin
erschlägt Mann mit heißem Bügeleisen. Eine vollbusige Frau im Sonntagskleid
starrte aus einer Rotogravüre. Neben ihr wogte eine zweite Fotografie:
Chamberlain erklärt den Frieden immer noch für möglich, mit einer Art Bankclerk
mit Regenschirm und einem Gesicht wie ein glückliches Schaf. Unter seinen
Füßen, in kleiner Schrift: Hunderte von Juden an der Grenze erschlagen.
Der Mann, der mit all diesem sich vor dem Nachttau und
dem frühen Licht geschützt hatte, schlief tief und ruhig.
Er trug alte, brüchige Segeltuchschuhe, eine braunwollene
Hose und ein ziemlich zerrissenes Jackett. Ihn ging all dies nichts an. Er war
so weit unten, daß ihn nichts mehr anging – so wie ein Tiefseefisch nichts
spürt von den Stürmen der Ozeane.
Ravic ging ins »International« zurück. Er war klar und
frei. Er ließ nichts zurück. Er konnte es auch nicht gebrauchen. Er konnte
nichts mehr brauchen, das ihn noch verwirrte. Er wollte heute in das »Prince de
Galles« ziehen. Zwei Tage zu früh. Aber es war besser, zu früh als zu spät auf
Haake zu warten.
28
28 Die Halle im »Prince de Galles« war leer, als Ravic herunterkam. Ein
tragbares Radio spielte leise am Rezeptionstisch. In den Ecken wirtschafteten
ein paar Scheuerfrauen. Ravic ging rasch und unauffällig durch. Er sah auf die
Uhr gegenüber der Tür. Es war fünf Uhr morgens.
Er ging die Avenue George V hinauf und hinüber zu
Fouquet’s. Niemand saß da. Das Restaurant war längst geschlossen. Er blieb
einen Augenblick stehen. Dann hielt er ein Taxi an und fuhr zur Scheherazade.
Morosow stand vor der Tür und sah ihm entgegen. »Nichts«,
sagte Ravic.
»Das dachte ich mir. War ja auch heute nicht zu
erwarten.«
»Doch heute schon. Heute ist es vierzehn Tage her.«
»Man soll nicht mit einem Tag rechnen. Warst du die ganze
Zeit im ›Prince de Galles‹?«
»Ja, von morgens bis jetzt.«
»Er wird morgen anrufen«, sagte Morosow. »Kann heute was
zu tun gehabt haben oder einen Tag später abgereist sein.«
»Morgen vormittag muß ich operieren.«
»So früh wird er nicht anrufen.«
Ravic erwiderte nichts.
Er sah auf ein Taxi, aus dem ein Gigolo im weißen Smoking stieg. Eine blasse
Frau mit großen Zähnen folgte ihm. Morosow öffnete ihnen die Tür. Die Straße
roch plötzlich nach Chanel Cinque. Die Frau hinkte leicht. Der Gigolo ging faul
hinter ihr her, nachdem er das Taxi bezahlt hatte. Die Frau wartete auf ihn an der
Tür. Ihre Augen waren grün im Licht der Lampen. Die Pupillen waren sehr klein
zusammengezogen.
»Um diese Zeit ruft er bestimmt nicht an«, sagte Morosow,
als er zurückkam.
Ravic antwortete nicht. »Wenn du mir den Schlüssel gibst,
kann ich um acht ’raufgehen«, erklärte Morosow. »Ich kann dann warten, bis du
zurückkommst.«
»Du mußt schlafen.«
»Unsinn. Ich kann auf deinem Bett schlafen, wenn ich
will. Es wird keiner anrufen, aber ich kann es tun, wenn es dich beruhigt.«
»Ich habe bis elf zu operieren.«
»Gut. Gib mir den Schlüssel. Ich möchte nicht, daß du vor
Aufregung einer Dame des Faubourg St. Germain die Eierstöcke an den Magen
nähst. Sie würde dann nach neun Monaten ein Kind kotzen. Hast du den
Schlüssel?«
»Ja. Hier.«
Morosow steckte den Zimmerschlüssel
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