E.M. Remarque
ein. Dann zog er eine
Büchse mit Pfefferminzpastillen hervor und bot sie Ravic an. Ravic schüttelte
den Kopf. Morosow nahm ein paar heraus und warf sie sich in den Mund. Sie
verschwanden in seinem Bart, wie kleine weiße Vögel in einem Wald. »Erfrischt«,
erklärte er, »Hast du schon einmal einen ganzen Tag in einer Plüschbude
gesessen und gewartet?« fragte Ravic.
»Länger? Du nicht auch?«
»Ja. Aber nicht auf das.«
»Hast du dir nichts zu lesen mitgenommen?«
»Genug. Aber ich habe nichts gelesen. Wie lange hast du
hier zu tun?«
Morosow öffnete die
Tür eines Taxis. Es war voll von Amerikanern. Er ließ sie ein. »Mindestens noch
zwei Stunden«, sagte er, als er zurückkam. »Du siehst ja, was los ist. Der
verrückteste Sommer seit Jahren. Joan ist auch drin.«
»So.«
»Ja. Mit einem andern, wenn dich das interessiert.«
»Nein«, sagte Ravic. Er wandte sich zum Gehen. »Ich sehe
dich dann morgen.«
»Ravic«, rief Morosow hinter ihm her.
Ravic kam zurück. Morosow zog den Schlüssel hervor.
»Hier! Du mußt doch in dein Zimmer im ›Prince de Galles‹ ’rein. Ich sehe dich
ja nicht vor morgen. Laß die Tür offen, wenn du weggehst.«
»Ich schlafe nicht im ›Prince de Galles‹.« Ravic nahm den
Schlüssel. »Ich schlafe im ›International‹. Richtiger, wenn man mein Gesicht
drüben so wenig wie möglich sieht.«
»Du solltest doch da schlafen. Man wohnt nicht in Hotels,
in denen man nicht schläft. Besser, falls die Polizei bei der Rezeption
herumfragen sollte.«
»Das schon, aber es ist auch besser, falls sie
herumfragen sollte, daß ich nachweisen kann, die ganze Zeit im »International
gewohnt zu haben. Ich habe im ›Prince de Galles‹ alles arrangiert. Das Bett
zerwühlt, Waschtisch, Handtücher, Bad und das andere so benützt, daß es
aussieht, als ob ich früh weggegangen wäre.«
»Schön. Dann gib mir den Schlüssel wieder.«
Ravic schüttelte den Kopf. »Besser, wenn man dich nicht
auch noch da sieht.«
»Es macht nichts.«
»Doch Boris. Wir wollen keine Idioten sein. Dein Bart ist
nicht alltäglich. Außerdem hast du recht; ich muß so tun und leben, als wenn
nichts Besonderes los wäre. Wenn Haake wirklich morgen früh anruft, wird er
nachmittags auch wieder anrufen. Wenn ich damit nicht rechne, bin ich ein
nervöses Wrack in einem Tage.«
»Wohin gehst du jetzt?«
»Schlafen. Nicht zu erwarten, daß er um diese Zeit noch
anruft.«
»Ich kann dich später irgendwo treffen, wenn du willst.«
»Nein, Boris. Ich werde hoffentlich schon schlafen, wenn
du hier frei wirst. Muß um acht operieren.«
Morosow sah ihn ungläubig an. »Gut. Ich komme dann morgen
nachmittag bei dir im ›Prince de Galles‹ vorbei. Wenn vorher was ist, rufe mich
im Hotel an.«
»Ja.«
Die Straßen. Die Stadt. Der rötliche Himmel.
Verflackerndes Rot und Weiß und Blau die Häuser hinunter. Wind, die Ecken der
Bistros umspielend wie eine zärtliche Katze. Menschen, Luft, nach einem Tag,
verwartet in einem stickigen Hotelzimmer. Ravic ging die Avenue hinter der
Scheherazade entlang. Die eisenumgitterten Bäume atmeten zögernd eine
Erinnerung an Grün und Wald in die bleierne Nacht. Er fühlte sich plötzlich zum
Umfallen leer und erschöpft. Wenn ich es ließe, dachte etwas in ihm, wenn ich
es ganz ließe, es vergäße, es abstreifte wie eine Schlange eine längst
überjährige Haut! Was geht es mich noch an, dieses Melodrama aus einer fast
vergessenen Vergangenheit? Was geht mich selbst dieser Mensch noch an, dieses
kleine, zufällige Instrument, dieses belanglose Werkzeug in einem Stück
finsteren Mittelalters, einer Sonnenfinsternis in Mitteleuropa?
Was ging es ihn noch an? Eine Hure versuchte, ihn in
einen Torgang zu locken. Sie öffnete im Dunkel der Tür ihr Kleid. Es war so
gemacht, daß es, wenn sie einen Gürtel
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