E.M. Remarque
wahrscheinlich
längst die kleine Episode vergessen. Vielleicht war er überhaupt nicht wieder
nach Paris gekommen. Die hatten drüben jetzt andere Sachen zu tun.
Morosow stand vor der Tür der Scheherazade. Ravic parkte
den Wagen um die nächste Ecke und ging zurück. Morosow sah ihm entgegen. »Hast
du meinen Anruf bekommen?«
»Nein. Warum?«
»Ich habe vor fünf Minuten angerufen. Da sitzt eine
Gruppe von Deutschen bei uns. Einer sieht aus wie ...«
»Wo?«
»Neben dem Orchester. Der einzige Tisch mit vier Männern.
Du kannst ihn von der Tür aus sehen.«
»Gut.«
»Nimm den kleinen Tisch neben dem Eingang. Ich habe ihn
freihalten lassen.« – »Gut, gut, Boris.«
Ravic blieb in der Tür stehen. Der Raum war dunkel. Das
Scheinwerferlicht lag voll auf der Tanzfläche. Eine Sängerin stand dort in
einem silbernen Kleid. Der schmale Lichtkegel war so stark, daß man nichts
außerhalb erkennen konnte. Ravic starrte zu dem Tisch neben dem Orchester
hinüber. Er konnte ihn nicht sehen. Das weiße Flirren schloß ihn ab.
Er setzte sich an den Tisch neben der Tür. Ein Kellner
brachte eine Karaffe Wodka. Das Orchester schien zu schleppen. Der süßliche
Melodiennebel kroch und kroch, schneckenhaft langsam. J’attendrai –
j’attendrai.
Die Sängerin verneigte sich. Applaus flatterte auf. Ravic
beugte sich vor. Er wartete auf das Erlöschen des Scheinwerfers. Die Sängerin
wandte sich zum Orchester. Der Zigeuner nickte und setzte die Geige an. Das
Cymbal warf ein paar gedämpfte Läufe hoch. Das zweite Lied. La
chapelle au clair de la lune. Ravic schloß die Augen. Das Warten war
fast unerträglich.
Er saß wieder aufrecht, lange, bevor das Lied zu Ende
war. Der Scheinwerfer erlosch. Die Lichter an den Tischen glühten auf. Er
konnte im ersten Moment nichts anderes sehen als undeutliche Umrisse. Er hatte
zu lange in den Scheinwerfer gestarrt. Er schloß noch einmal die Augen und sah
auf. Er fand den Tisch sofort.
Langsam lehnte er sich zurück. Keiner der Männer war
Haake. Er blieb lange so sitzen. Er war plötzlich entsetzlich müde. Müde hinter
den Augen. Es trieb in stoßweisen, ungleichen Wellen heran. Die Musik, das Auf
und Ab der Stimmen, der gedämpfte Lärm benebelten ihn nach der Stille des
Hotelzimmers und der neuen Enttäuschung. Es war wie ein Schlafkaleidoskop, eine
sachte Hypnose, die die roh gedachten, verwarteten Gehirnzellen einhüllte.
Irgendwann, in dem matten Lichtpunkt, in dem die
Tanzenden trieben, sah er Joan. Das geöffnete, durstige Gesicht war
zurückgebeugt, der Kopf nahe der Schulter eines Mannes. Er empfand nichts
dabei. Niemand konnte ihm fremder werden als ein Mensch, den man einmal geliebt
hatte, dachte er müde. Wenn die rätselhafte Nabelschnur zwischen Phantasie und
Objekt gerissen war, konnte es vielleicht noch wetterleuchten von einem zum
andern, fluoreszieren, wie von geisterhaften Sternen; aber es war ein totes
Licht. Es erregte, aber es zündete nicht mehr – nichts floß mehr herüber und
hinüber. Er legte den Kopf zurück gegen die Rücklehne der Banquette. Das
bißchen Vertrautheit über Abgründen. Die Dunkelheit der Geschlechter mit all
ihren süßen Namen. Sternblumen über einem Meer, in dem man versank, wenn man
sie pflücken wollte.
Er richtete sich auf. Er mußte hier heraus, bevor er
einschlief. Er winkte dem Kellner. »Zahlen.«
»Da ist nichts zu zahlen«, sagte der Kellner.
»Wieso?«
»Sie haben nichts getrunken.«
»Ach so, richtig.«
Er gab dem Mann ein Trinkgeld und ging.
»Nein?« fragte Morosow draußen.
»Nein«, erwiderte Ravic.
Morosow sah ihn an. »Ich gebe auf«, sagte Ravic. »Es ist
ein verdammtes, lächerliches Indianerspiel. Fünf Tage warte ich jetzt schon.
Haake hat mir gesagt, daß er
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