E.M. Remarque
Gesten seines Berufes umflatterten nur
albern seinen wirklichen Schmerz. »Kann ich sie sehen?«
»Wozu?«
»Ich muß sie noch einmal sehen.« Der Mann preßte beide
Hände gegen seine Brust. In den Händen hielt er einen hellbraunen Homburghut
mit Seidenkante. »Verstehen Sie doch! Ich muß ...«
Er hatte Tränen in den Augen. »Hören Sie«, sagte Ravic
ungeduldig. »Es ist besser, Sie verschwinden. Die Frau ist tot, und nichts
ändert mehr daran. Machen Sie Ihre Sache mit sich selbst ab. Scheren Sie sich
zum Teufel! Kein Mensch ist interessiert daran, ob Sie ein Jahr Gefängnis
bekommen oder dramatisch freigesprochen werden. In ein paar Jahren werden Sie
ohnehin damit herumprotzen und sich vor anderen Frauen damit wichtig machen, um
sie zu bekommen. Raus – Sie Idiot!«
Er gab ihm einen Stoß zur Tür hin. Der Mann zögerte einen
Moment. An der Tür drehte er sich um. »Sie gefühlloses Biest! Sale boche!«
Die Straßen waren voll
mit Menschen. Zu Trauben gedrängt standen sie vor den großen, laufenden
Leuchtanzeigen der Zeitungen. Ravic fuhr zum Jardin du Luxembourg. Er wollte
ein paar Stunden allein sein, bevor man ihn verhaftete. – Der Garten war leer.
Er lag im warmen Licht des vollen Spätsommernachmittags. Die Bäume hatten eine
erste Ahnung vom Herbst – nicht vom Herbst des Welkens, sondern vom Herbst des
Reifens. Das Licht war Gold und das Blau eine letzte, seidene Fahne des
Sommers.
Ravic saß lange da. Er sah das Licht wechseln und die
Schatten länger werden. Er wußte, es waren die letzten Stunden, die er frei
sein würde. Die Wirtin des »International« konnte niemand mehr decken, wenn
Krieg erklärt würde. Er dachte an Rolande. Auch Rolande nicht. Niemand. Zu
versuchen, jetzt weiter zu fliehen, hieße als Spion verhaftet zu werden.
Er saß bis zum Abend. Er war nicht traurig. Gesichter
zogen an ihm vorbei, Gesichter und Jahre. Und dann das letzte, erstarrte Gesicht.
Um sieben Uhr ging er. Er verließ den letzten Rest
Frieden, den eindunkelnden Park, und wußte es. Wenige Schritte die Straße
aufwärts sah er die Extrablätter.
Der Krieg war erklärt.
Er saß in einem Bistro, das kein Radio hatte. Dann ging
er zur Klinik zurück. Veber kam ihm entgegen. »Können Sie noch einen
Kaiserschnitt machen? Wir haben jemand eingeliefert bekommen.«
»Natürlich.«
Er ging, sich umzuziehen. Eugenie begegnete ihm. Sie
stutzte, als sie ihn sah. »Sie haben mich wohl nicht mehr erwartet?« sagte er.
»Nein«, sagte sie und sah ihn sonderbar an. Dann ging sie
rasch an ihm vorbei.
Der Kaiserschnitt war eine einfache Sache. Ravic machte
ihn fast gedankenlos. Einige Male fühlte er den Blick Eugenies auf sich. Er
wunderte sich, was sie hatte.
Das Kind quäkte. Es wurde gewaschen. Ravic blickte auf
das rote, schreiende Gesicht und die winzigen Finger. Wir kommen nicht mit
einem Lächeln auf die Welt, dachte er. Er gab es weiter an die Hilfsschwester.
Es war ein Knabe. »Wer weiß, für was für einen Krieg er zurechtkommt!« sagte
er.
Er wusch sich. Veber wusch sich neben ihm. »Wenn es wahr
sein sollte, daß Sie verhaftet werden, Ravic, wollen Sie es mich sofort wissen
lassen, wo Sie sind?«
»Warum wollen Sie in Schwierigkeiten kommen, Veber? Es
ist besser jetzt, Leute meiner Art nicht zu kennen.«
»Warum? Weil Sie Deutscher waren? Sie sind ein Refugié.«
Ravic lächelte trübe. »Wissen Sie nicht, daß Refugiés
immer der Stein zwischen Steinen sind? Für ihr Geburtsland sind sie Verräter
und für das Ausland immer noch Angehörige ihres Geburtslandes.«
»Das ist mir gleichgültig. Ich will, daß Sie so schnell
herauskommen wie möglich. Wollen Sie mich als Referenz angeben?«
»Wenn Sie wollen.«
Ravic wußte, daß er es nicht tun werde.
»Für einen Arzt ist überall etwas zu tun.«
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