E.M. Remarque
sehr klar. Bevor ich einschlief, sah ich den
Orion über den Wäldern am Horizont stehen. Dann wachte ich auf, mitten in der
Nacht – und der Orion stand auf einmal hoch über mir. Ich habe das nie
vergessen. Ich hatte gelernt, daß die Erde ein Stern ist und sich dreht; aber
ich hatte es gelernt, wie man vieles lernt, was in Büchern steht, und nie
darüber nachgedacht. Jetzt zum erstenmal empfand ich, daß es wirklich so war.
Ich fühlte, wie sie lautlos durch den ungeheuren Raum flog.
Ich fühlte es so stark, daß ich fast glaubte, mich
festhalten zu müssen, um nicht heruntergeschleudert zu werden. Es kam wohl,
weil ich, aufgewacht aus tiefem Schlaf, einen Augenblick verlassen von
Gedächtnis und Gewohnheit, in den riesig verschobenen Himmel sah. Die Erde war
plötzlich nicht mehr fest für mich – und sie ist es seitdem nie wieder ganz
geworden.«
Er trank sein Glas aus. »Das macht manches schwerer und
vieles leichter.« Er sah zu Joan Madou hinüber. »Ich weiß nicht, wie weit Sie
sind«, sagte er. »Wenn Sie müde sind, antworten Sie einfach nicht mehr.‹.
»Noch nicht. Bald. Es ist noch eine Stelle, die wach ist.
Wach und kalt.«
Ravic stellte die Flasche neben sich auf den Boden. Aus
der Wärme des Zimmers sickerte langsam eine braune Müdigkeit in ihn hinüber.
Die Schatten kamen. Das Wehen der Flügel. Ein fremdes Zimmer, Nacht, und
draußen – wie ferne Trommeln – das monotone Klopfen des Regens – eine Hütte mit
etwas Licht am Rande des Chaos, ein kleines Feuer in der Wildnis ohne Sinn –
ein Gesicht, gegen das man sprach.
»Haben Sie das auch einmal gespürt?« fragte er.
Sie schwieg eine Weile. »Ja. Nicht so. Anders. Wenn ich
tagelang mit niemandem gesprochen hatte und nachts umherging, und überall waren
Menschen, die irgendwohin gehörten, die irgendwohin gingen, irgendwo zu Hause
waren. Nur ich nicht. Dann wurde langsam alles unwirklich, als wäre ich
ertrunken und ginge durch eine fremde Stadt unter Wasser ...«
Jemand kam draußen die Treppe hinauf. Ein Schlüssel
klirrte, und eine Tür klappte. Gleich darauf rauschte die Wasserleitung. »Warum
bleiben Sie in Paris, wenn Sie niemand hier kennen?« fragte Ravic. Er fühlte,
daß er schläfrig wurde.
»Ich weiß nicht. Wohin soll ich sonst gehen?«
»Haben Sie nichts, wohin Sie zurückgehen können?«
»Nein. Man kann auch nirgendwohin zurückgehen.«
Der Wind jagte einen
Regenschauer über das Fenster. »Weshalb sind Sie nach Paris gekommen?« fragte
Ravic.
Joan Madou antwortete nicht. Er glaubte schon, sie sei
eingeschlafen. »Raczinsky und ich kamen nach Paris, weil wir uns trennen
wollten«, sagte sie dann.
Ravic hörte es, ohne
überrascht zu sein. Es gab Stunden, wo einen nichts überraschte. Im Zimmer
gegenüber begann der Mann, der kurz vorher gekommen war, zu kotzen. Man hörte
sein Stöhnen gedämpft durch die Tür.
»Warum waren Sie dann so verzweifelt?« fragte Ravic.
»Weil er tot war! Tot! Plötzlich nicht mehr da! Nie
zurückzuholen! Tot! Nie mehr etwas zu machen! Verstehen Sie das nicht?« Joan
Madou hatte sich im Bett halb aufgerichtet und starrte Ravic an. Weil er
fortgegangen ist, bevor du es tun konntest. Weil er dich allein gelassen hat,
bevor du dafür bereit warst.
»Ich … ich hätte anders sein sollen zu ihm … ich war ...«
»Vergessen Sie das. Reue ist das Nutzloseste in der Welt.
Man kann nichts zurückholen. Man kann nichts gutmachen. Wir wären sonst alle
Heilige. Das Leben hat nicht beabsichtigt, uns vollkommen zu machen. Wer vollkommen
ist, gehört in ein Museum.«
Joan Madou antwortete nicht. Ravic sah, daß sie trank und
sich wieder in die Kissen zurücklehnte. Da war noch etwas – aber er war zu
müde, um noch darüber nachzudenken. Es war ihm auch gleichgültig. Er wollte
schlafen. Morgen mußte er operieren. Dies alles ging
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