E.M. Remarque
Lucienne. Da
fragen Sie besser später Doktor Veber.«
»Ich möchte es gern bald wissen.«
»Warum?«
»Ich kann es mir dann besser einteilen, wie lange ich
dafür arbeiten muß.« Lucienne blickte auf ihre Hände. Die Finger waren dünn und
zerstochen. »Ich muß auch noch einen Monat Zimmermiete zahlen«, sagte sie. »Als
ich hierherkam, war es gerade der dreizehnte. Am fünfzehnten hätte ich kündigen
müssen. Jetzt muß ich noch den Monat bezahlen. Für nichts.«
»Haben Sie nicht jemand, der Ihnen hilft?«
Lucienne blickte auf. Ihr Gesicht war plötzlich zehn
Jahre älter. »Das wissen Sie doch selbst, Doktor! Der war nur ärgerlich. Er
hätte nicht gewußt, daß ich so dumm sei. Sonst hätte er nie mit mir
angefangen.«
Ravic nickte. So etwas war nichts Neues. »Lucienne«,
sagte er, »wir können versuchen, von der Frau, die den Eingriff gemacht hat,
etwas zu bekommen. Sie war schuld. Sie müssen uns nur ihren Namen geben.«
Das Mädchen richtete
sich rasch auf. Es war plötzlich nichts als Abwehr. »Polizei? Nein, da fliege
ich selbst ’rein.«
»Ohne Polizei. Wir drohen nur.«
Sie lachte nur. »Von der kriegen Sie damit nichts. Die
ist aus Eisen. Dreihundert Frank habe ich ihr bezahlen müssen. Und dafür …« Sie
strich ihren Kimono glatt. »Manche Menschen haben eben gar kein Glück«, sagte
sie ohne Resignation, als spräche sie von jemand anderem als sich selbst.
»Doch«, erwiderte Ravic. »Sie hatten eine Menge Glück.«
Er sah Eugenie im Operationssaal. Sie putzte
Nickelsachen blank. Es war eine ihrer Liebhabereien. Sie war so versunken in
ihre Arbeit, daß sie ihn nicht kommen hörte.
»Eugenie«, sagte er.
Sie fuhr herum. »Ach Sie! Müssen Sie einen dauernd
erschrecken?«
»Ich glaube nicht, daß ich soviel Persönlichkeit habe.
Aber Sie sollten die Patienten nicht erschrecken mit Ihren Geschichten über
Honorare und Kosten.«
Eugenie richtete sich auf, die Putzlappen in der Hand.
»Die Hure hat natürlich sofort geklatscht.«
»Eugenie«, sagte Ravic. »Es gibt mehr Huren unter Frauen,
die nie mit einem Mann geschlafen haben, als unter denen, die einen schwierigen
Broterwerb daraus machen. Ganz zu schweigen von den Verheirateten. Außerdem hat
das Mädchen nicht geklatscht. Sie haben ihm nur den Tag verdorben, das ist
alles.«
»Na, wennschon! Empfindlichkeit noch bei dem
Lebenswandel!«
Du wandelnder Moralkatechismus, dachte Ravic. Du ekelhafter
Tugendprotz – was weißt du von der Verlassenheit dieser kleinen Hutmacherin,
die tapfer zu derselben Hebamme gegangen ist, die ihre Freundin verpfuscht hat
– und zum selben Hospital, in dem die andere gestorben ist, und die nichts
weiter dazu sagt als: Was sollte ich machen, und: wie kann ich es bezahlen …
»Sie sollten heiraten, Eugenie«, sagte er. »Einen Witwer
mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.«
»Herr Ravic«, sagte die Schwester mit Würde. »Wollen Sie
sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn
Doktor Veber beschweren.«
»Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.« Ravic sah mit
Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. »Warum können
fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben
Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?«
»Gottlob nein.«
»Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den
Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich
hat.«
»Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben
wird.«
»Jungfräulichkeit macht noch nicht zur Hellseherin. Es
könnte doch sein. Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem
Hotel.«
»Schönes Hotel, die Judenbude.«
Ravic drehte
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