E.M. Remarque
ihn nichts mehr an. Er
stellte das leere Glas auf den Boden neben die Flasche. Sonderbar, wo man
manchmal so landet, dachte er.
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6 Lucienne Martinet saß am Fenster, als Ravic hereinkam. »Wie ist
das« fragte er, »so zum erstenmal aus dem Bett zu sein?«
Das Mädchen sah ihn an und dann hinaus in den grauen
Nachmittag und wieder zurück zu ihm. »Kein gutes Wetter heute«, sagte er.
»Doch«, erwiderte sie. »Für mich schon.«
»Warum?«
»Weil ich nicht ’raus muß.«
Sie saß zusammengekauert in ihrem Sessel, einen billigen
baumwollenen Kimono um die Schultern gezogen, ein schmales, unansehnliches
Wesen mit schlechten Zähnen – aber für Ravic war sie im Augenblick schöner als
Trojas Helena. Sie war ein Stück Leben, das er mit seinen Händen gerettet
hatte. Es war nichts, um besonders stolz zu sein; eine hatte er kurz vorher
verloren. Die nächste verlor er vielleicht wieder; und am Ende verlor man sie
alle und sich selbst auch. Aber diese hier war für den Augenblick gerettet.
»Hüte herumschleppen ist kein Spaß bei diesem Wetter«,
sagte Lucienne.
»Haben Sie Hüte herumgeschleppt?«
»Ja. Für Madame Lanvert. Das Geschäft an der Avenue
Matignon. Bis fünf Uhr mußten wir arbeiten. Dann mußte ich die Kartons zu den
Kunden bringen. Jetzt ist es halb sechs. Jetzt wäre ich unterwegs.« Sie blickte
durch das Fenster. »Schade, daß es nicht mehr regnet. Gestern war es besser. Da
regnete es in Strömen. Jetzt muß jemand anders da hindurch.«
Ravic setzte sich ihr gegenüber auf die Fensterbank.
Merkwürdig, dachte er. Man erwartet immer, Menschen müßten hemmungslos
glücklich sein, wenn sie dem Tode entronnen sind. Sie sind es fast nie. Diese
hier ist es auch nicht. Ein kleines Wunder ist geschehen, und alles, was sie
daran interessiert, ist, daß sie nicht durch den Regen gehen muß. »Wie sind Sie
gerade hierher, in die Klinik, gekommen, Lucienne?« fragte er.
Sie sah ihn vorsichtig an. »Jemand hat es mir gesagt.«
»Wer?«
»Eine Bekannte.«
»Was für eine Bekannte?«
Das Mädchen zögerte. »Eine Bekannte, die auch hier war.
Ich habe sie hierhergebracht, bis vor die Tür. Daher wußte ich es.«
»Wann war das?«
»Eine Woche bevor ich kam.«
»War es die, die während der Operation gestorben ist?«
»Ja.«
»Und trotzdem sind Sie hierhergekommen?«
»Ja«, sagte Lucienne gleichgültig. »Warum nicht?«
Ravic sagte nicht, was er sagen wollte. Er sah das kleine
kalte Gesicht an, das einmal weich gewesen war und das das Leben so rasch hart
gemacht hatte. »Waren Sie vorher auch bei derselben Hebamme?« fragte er.
Lucienne antwortete nicht. »Oder bei demselben Arzt? Sie
können es mir ruhig sagen. Ich weiß ja nicht, wer es ist.«
»Marie war zuerst da. Eine Woche früher. Zehn Tage
früher.«
»Und Sie sind später hingegangen, trotzdem Sie wußten,
was Marie passiert war?«
Lucienne hob die Schultern. »Was sollte ich machen? Ich
mußte es riskieren. Ich wußte niemand anderes. Ein Kind … was sollte ich mit
einem Kind?« Sie sah aus dem Fenster. Auf einem Baikon gegenüber stand ein Mann
in Hosenträgern, der einen Schirm über sich hielt. »Wie lange muß ich noch
hierbleiben, Doktor?«
»Ungefähr zwei Wochen.«
»Zwei Wochen noch?«
»Das ist nicht lange. Warum?«
»Es kostet und kostet...«
»Vielleicht können wir es ein paar Tage früher machen.«
»Glauben Sie, daß ich es abzahlen kann? Ich habe nicht
genug Geld. Es ist teuer, jeden Tag dreißig Frank.«
»Wer hat Ihnen denn das gesagt?«
»Die Schwester.«
»Welche?
Eugenie, natürlich ...«
»Ja. Sie sagte, die Operation und die Verbände wären noch
extra. Ist das sehr teuer?«
»Die Operation haben Sie schon bezahlt.«
»Die Schwester sagt, es wäre längst nicht genug gewesen.«
»Das weiß die Schwester nicht so genau,
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