E.M. Remarque
haben.«
»Gut, mein Herr.«
Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe,
halb beschlagen, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das
Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger auf dem Anstand, er
beobachtete jeden Menschen, der vorüberging – aber schattenhaft, grau und
scharf, jagte gleichzeitig ein Film darüber, ein Fetzen Erinnerung …
Berlin. Ein Sommerabend 1934 – das Haus der Gestapo;
Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das grelle Licht nackter elektrischer
Birnen; ein rotbespritzter Tisch mit Riemen zum Festschnallen; die übernächtige
Helligkeit seines Gehirns, das ein dutzendmal aus Ohnmachten durch halbes
Ersticken in einem Wassereimer wieder aufgeschreckt worden war; seine Nieren,
die so zerschlagen waren, daß sie nicht mehr schmerzten; das verzerrte,
fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Henkersknechte in Uniform, die sie
hielten – und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte,
was mit der Frau geschehen würde, wenn man nicht gestand – Sybil, die dann drei
Tage später angeblich erhängt aufgefunden wurde.
Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch.
»Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.«
»Gut, gut. Danke.«
Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen
Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände
waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und
bestellte einen anderen Calvados.
Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er soeben
wiedergesehen zu haben glaubte – es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich,
daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte
keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Die
Zeit dafür war, wenn das drüben zusammenkrachte und man zurückkonnte. Bis dahin
…
Er rief den Kellner und zahlte; aber er konnte es nicht
hindern, daß er jeden unterwegs genau beobachtete.
Er saß mit Morosow in der Katakombe.
»Du glaubst nicht, daß er es war?« fragte Morosow.
»Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte
Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das nicht mehr sicher ist.«
»Pech, daß du im Bistro warst.«
»Ja.«
Morosow schwieg eine Weile. »Regt einen verflucht auf,
was?« sagte er dann.
»Nein. Warum?«
»Weil man es nicht weiß.«
»Ich weiß es.«
Morosow erwiderte nichts.
»Gespenster«, sagte Ravic. »Dachte, ich wäre drüber weg.«
»Das ist man nie. Ich habe das auch gehabt. Im Anfang
hauptsächlich. In den ersten fünf, sechs Jahren. Ich warte noch auf drei in
Rußland. Es waren sieben. Vier sind gestorben. Zwei davon erschossen von der
eigenen Partei. Ich warte jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Seit 1917. Einer von den dreien, die noch leben, ist jetzt an siebzig. Die anderen beiden
um vierzig, fünfzig herum. Die werde ich hoffentlich noch kriegen. Es sind die
für meinen Vater.«
Ravic sah Boris an. Er war ein Riese, aber über sechzig.
»Du wirst sie kriegen«, sagte er.
»Ja.« Morosow öffnete und schloß die großen Hände.
»Darauf warte ich. Lebe deshalb vorsichtiger. Trinke nicht mehr so oft.
Vielleicht dauert es noch eine Zeit. Ich muß kräftig sein dann. Ich will nicht
schießen und nicht stechen.«
»Ich auch nicht.«
Sie saßen eine Zeitlang. »Wollen wir eine Partie Schach
spielen?« fragte Morosow.
»Ja. Aber ich sehe kein freies Brett.«
»Drüben der Professor hört auf. Hat mit Levy gespielt.
Gewonnen wie immer.«
Ravic ging, das Brett und die Figuren holen. »Sie haben
lange gespielt, Professor, den ganzen Nachmittag.«
Der alte Mann nickte. »Es lenkt ab. Schach ist
vollkommener als Kartenspielen. Kartenspielen ist Glück und Pech. Das lenkt
nicht genug ab.
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