E.M. Remarque
Puls?«
»Fünfundneunzig.«
»Blutdruck?«
»Hundertfünfzehn.«
»Gut. Ich glaube, Veber, wir brauchen jetzt nicht mehr
nachzudenken, ob wir ohne Zustimmung operieren sollen oder nicht. Hier ist
nichts mehr zu tun.«
Veber nickte.
»Zunähen«, sagte Ravic. »Das Kind wegnehmen, das ist
alles. Zunähen und nichts sagen.«
Er stand einen Moment und sah auf den offenen Körper
unter den weißen Tüchern. Das grelle Licht machte die Tücher noch weißer, wie
frischer Schnee, unter dem der rote Krater der klaffenden Wunde gähnte. Kate
Hegström, vierunddreißig Jahre alt, kapriziös, schmal, braun, trainiert, voll
von Willen zum Leben – zum Tode verurteilt durch den neblig unsichtbaren Griff,
der ihre Zellen zerstört hatte.
Er beugte sich wieder über den Körper. »Wir müssen ja
noch ...«
Das Kind. In diesem zerfallenen Körper wuchs ja noch
blind ein tappendes Leben heran. Verurteilt mit ihm. Noch fressend, saugend,
gierig, nichts als Trieb zum Wachsen, irgend etwas, das einmal spielen wollte
in Gärten, das irgend etwas werden wollte, Ingenieur, Priester, Soldat, Mörder,
Mensch, etwas, das leben, leiden, glücklich sein wollte und zerbrechen …
vorsichtig ging das Instrument die unsichtbare Wand entlang – fand den
Widerstand, brach ihn behutsam, brachte ihn heraus – vorbei. Vorbei mit all dem
unbewußten Kreisen, vorbei mit dem ungelebten Atem, Jubel, Klage, Wachsen,
Werden. Nichts mehr als etwas totes, bleiches Fleisch und etwas gerinnendes
Blut.
»Schon Nachricht von Boisson?«
»Noch nicht. Muß bald kommen.«
»Wir können noch ein paar Minuten warten.«
Ravic trat zurück. »Puls?«
Er sah hinter dem Bügel Kate Hegströms Augen. Sie blickte
ihn an – nicht starr, sondern als ob sie ihn sähe und alles wüßte. Einen
Augenblick glaubte er, sie sei erwacht. Er machte einen Schritt und stoppte
dann. Unmöglich! Es war ein Zufall; das Licht. »Wie ist der Puls?«
»Hundert. Blutdruck hundertzwölf. Fällt.«
»Es wird Zeit«, sagte Ravic. »Boisson könnte jetzt fertig
sein.«
Das Telefon klingelte gedämpft von unten. Veber blickte
zur Tür. Ravic sah nicht hin. Er wartete. Er hörte die Tür. Die Schwester kam
herein. »Ja«, sagte Veber.
»Krebs.«
Ravic nickte und
begann weiterzuarbeiten. Er löste die Zangen, die Klammern. Er hob den
Retraktor heraus; die Handtücher. Neben ihm zählte Eugenie die Instrumente.
Er begann zu nähen.
Fein, methodisch, genau, völlig konzentriert und ohne jeden Gedanken. Das Grab
schloß sich, die Häute legten sich aneinander, bis zur letzten, äußeren; er
klammerte sie ab und richtete sich auf. »Fertig.«
Eugenie kurbelte mit
dem Fuß den Tisch wieder horizontal und deckte Kate Hegström zu. Scheherazade,
dachte Ravic, vorgestern, ein Kleid von Mainbocher, waren Sie einmal glücklich,
oft, ich habe Angst, eine Routinesache; die Zigeuner spielen. – Er sah auf die
Uhr über der Tür. Zwölf. Mittag. Draußen öffneten sich jetzt die Büros und
Fabriken, und gesunde Leute strömten heraus. Die beiden Schwestern schoben den
flachen Wagen aus dem Operationssaal heraus. Ravic riß die Gummihandschuhe von
den Händen, ging in den Waschraum und begann sich zu waschen.
»Ihre Zigarette«, sagte Veber, der sich neben ihm an dem
zweiten Becken wusch. »Sie verbrennen sich die Lippen.«
»Ja. Danke. Wer wird es ihr nur sagen, Veber?«
»Sie«, erklärte Veber ohne Zögern.
»Wir müssen ihr erklären, weshalb wir geschnitten haben.
Sie hatte erwartet, wir würden es von innen machen. Wir können ihr nicht sagen,
was es wirklich war.«
»Es wird Ihnen schon etwas einfallen«, sagte Veber
zuversichtlich.
»Meinen Sie?«
»Natürlich. Sie haben ja bis heute abend Zeit.«
»Und Sie?«
»Mir würde sie nichts glauben. Sie weiß, daß Sie
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