E.M. Remarque
sie
operiert haben, und wird es von Ihnen wissen wollen. Sie würde nur mißtrauisch
werden, wenn ich käme.«
»Stimmt.«
»Ich verstehe nicht, wie es sich in so kurzer Zeit
entwickeln konnte.«
»Es kann. Ich wollte, ich wüßte, was ich sagen soll.«
»Ihnen wird schon etwas einfallen, Ravic. Irgendeine
Zyste oder ein Myom.«
»Ja«, sagte Ravic. »Irgendeine Zyste oder ein Myom.«
Nachts ging er noch einmal zur Klinik. Kate Hegström
schlief. Sie war abends aufgewacht, hatte erbrochen, ungefähr eine Stunde
unruhig gelegen und war dann wieder eingeschlafen.
»Hat sie irgend etwas gefragt?«
»Nein«, sagte die rotbackige Schwester. »Sie war noch
benommen und hat nichts gefragt.«
»Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen.
Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle
weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig
wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an. Ich hinterlasse im Hotel, wo ich
bin.«
Er stand auf der Straße wie jemand, der noch einmal
entkommen war. Ein paar Stunden Frist, ehe er in ein vertrauendes Gesicht
hineinlügen mußte. Die Nacht erschien ihm plötzlich warm und schimmernd. Der
graue Aussatz des Lebens wurde wieder einmal barmherzig überdeckt von ein paar
geschenkten Stunden, die wie Tauben emporflogen. Auch sie waren Lügen – es
wurde einem nichts geschenkt; sie waren nur ein Aufschub, aber was war es
nicht? War nicht alles Aufschub, barmherziger Aufschub, eine bunte Fahne, die
das ferne, schwarze, unerbittlich näher kommende Tor verdeckte?
Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen
Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam.
»Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.«
Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen
Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte
Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß
die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas
dagegen – Aufschub, noch ein Jahr Aufschub – das war alles, worum man sich
aufraffte, zu kämpfen. Aufschub auch hier – immer wieder.
Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des
Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur
bestellt? Er winkte dem Kellner. »Einen fine.«
Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die
Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen.
Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren
seines Lebens. –
Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern.
Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein
ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld
geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in
der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die
sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon
da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall – eine Granate, die mitten ins Feuer
geschlagen hatte –; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei
seiner Kameraden tot – und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er
kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule
besuchte, von dem er unzertrennlich gewesen war – er lag da, den Magen und den
Bauch aufgerissen, die Eingeweide hervorquellend …
Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett,
den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie
schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen
Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide
Weitere Kostenlose Bücher